„Geschlechterinszenierungen im Raum“. Frauen- und geschlechtergeschichtliche Perspektiven einer Geschichte des Ruhrgebiets

Als eine „Verräumlichung der Geschlechterdifferenz“ beschreibt Sandra Schürmann am Beispiel der Stadt Recklinghausen die kulturelle Urbanisierung des Ruhrgebiets in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.1 Eine „Verräumlichung“, in der die Unterscheidung zwischen suburbaner Idylle und ungemütlicher Großstadt nicht zuletzt durch Weiblichkeits- und Männlichkeitsstereotype reproduziert wird, durch Bilder von idyllischem Familienleben auf der einen und stahlharter Arbeit auf der anderen Seite. Diese Dichotomisierung von klar abgrenzbaren Erholungs- und Arbeitsräumen bildet neben der angeblich naturgegebenen Grenzziehung zwischen einer männlich kodierten Öffentlichkeit und einer weiblich kodierten Privatsphäre eine der Repräsentationen moderner (Industrie-)Gesellschaften.

Gemeingut in den Kulturwissenschaften – und mittlerweile seit einigen Jahren nun auch in der historischen Wissenschaft – ist, dass der regionale Raum kein naturhafter, vorgegebener Raum darstellt, sondern stets funktional definiert ist: Was uns als Region vorgegeben scheint, ist in der Wirklichkeit genauso wenig auffindbar wie etwa die “Geschichtslandschaft“. Es ist ein erkenntnistheoretisches Konstrukt, das jeweils abhängig ist von der Zielsetzung derer, die sich dieses Begriffes bedienen, ihn füllen und in der Öffentlichkeit bewerben oder propagieren. Aus dieser Perspektive lässt sich Region eher als eine Sinneinheit verstehen, die historische und gegenwärtige, alltägliche Erfahrung widerspiegelt. Diese Art der Sinnstiftung über die Konstruktion einer Region ist ein komplexer Prozess, der sich mit der Zeit als Erfahrung verdichtet, als ein Teil selbst erlebter Geschichte, in dem es feste Erklärungsmuster und Begründungszusammenhänge gibt, auf die immer wieder Bezug genommen wird und die kaum noch hinterfragt werden. Somit setzt das Reden über Region, das vermeintliche Bewusstsein davon, was das Ruhrgebiet als eigenständiger, unverwechselbarer Raum ausmacht, immer schon einen Aneignungs- bzw. Ausschlussprozess voraus, in dem Räume begrenzt, und Akteurinnen und Akteure entsprechend verortet werden.

Ausgehend von der Erkenntnis, dass weibliche und männliche Lebensrealitäten und somit auch Interessen und Bedürfnisse stark voneinander abweichen können, findet man in vielen Städten des Ruhrgebiets zunehmend Arbeitskreise, die sich mit der Durchführung von entsprechenden Projekten beschäftigen, um die Bedeutung dieser geschlechtsspezifischen Aspekte bei Stadt- und Raumplanungen besser erfassen und berücksichtigen zu können (Doris Reich; Gabriele Sturm).2 Das Ziel bei diesen Projekten ist die Durchsetzung der gleichbe­rech­tigten Teilhabe an der Entwick­lung von städtischen Infrastrukturen; der Ausgangspunkt ist die konstatierte ungleiche Verteilung von Ressourcen und die Feststellung, dass Männer und Frauen unterschiedliche Bezüge zu und Erfahrungen mit ihrer Stadt und Region besitzen.

Inwieweit Räume bzw. Städte und Regionen „ge-gendert“ sind, welche unterschiedlichen Bezüge und Erfahrungen Frauen und Männer mit einer Region haben, wird dagegen in den einschlägigen Studien zur Lokal- oder Regionalgeschichte selten bis gar nicht thematisiert. Hier ist Sandra Schürmann eine Pionierstudie gelungen, in der nach dem ‚Bild‚ des Raumes gefragt wird, das in Vorstellungen und Wahrnehmungen der Bewohnerinnen und Bewohner existiert und gewissermaßen als ‚kulturelle Landkarte‚ verstanden wird, die im Alltag der Menschen Bedeutung erlangt. Vor diesem Hintergrund wäre es auch für weitere Forschungen interessant zu erfahren, welche spezifischen Zugangschancen, Hindernisse und Frei-‚Räume‚ von Männern und Frauen wahrgenommen wurden und wie hierbei die spezifischen Bedingungszusammenhänge unterschiedlicher Orte in der Region aussahen, wie das Wechselverhältnis zwischen den Handelnden und den Strukturen aussah, und die Möglichkeiten der Subjekte, diese Strukturen, diese Räume zu gestalten bzw. verändern zu können. Auf diese Weise könnten die – u.a. durch die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung verursachten – räumlichen Zuweisungen von Frauen und Männern auf bestimmte Orte, ihre Erfahrungen und Erkenntnisse, ihre Möglichkeiten neue und andere Räume zu gewinnen, erforscht werden.

Doch:„Was sind Frauen? Was sind Männer?“ (Christiane Eifert). Mit diesem provokanten Titel umrissen vor einigen Jahren Historikerinnen eines gleichnamigen Aufsatzbandes die Kernfrage der neueren Frauen- und Geschlechtergeschichte.3 Die Gewissheit darüber, was männlich und weiblich ist, ist in den letzten Jahren durch Fragen nach den historischen Strukturen der Beziehung zwischen Frauen und Männern aus den Fugen geraten, nicht zuletzt, da immer deutlicher wird, dass die gesellschaftlichen Vorstellungen darüber, wie Frauen und Männer zusammen lebten, arbeiteten und an der Gestaltung ihrer politischen Umwelt teil hatten, immer wieder neu beschrieben und hergestellt werden mussten. Diese ‚Ungewissheit‚ oder besser gesagt: diese Klarheit, dass es sich bei diesen geschlechtlichen Zuschreibungen um jeweils zeitgebundene Konstruktionen handelt, führte dazu, nach den jeweiligen Übereinkünften zu fragen, auf welche Weise und mit welchem Ergebnis solche Vorstellungen ausgehandelt und durchgesetzt wurden.

So führten gesellschaftliche und kulturelle Vorstellungen, wie sie z.B. durch familiäre Erziehung, Schul- und Berufsausbildung geprägt wurden, aber auch strukturpolitische Weichenstellungen zu ungleichen Voraussetzungen zwischen Männern und Frauen. Für das Ruhrgebiet liegen hierzu mit den Arbeiten u.a. von Anne Schlüter und Hanne Hieber zu den Themen Bildung und berufliche Aus- und Weiterbildung und den Studien von Birgit Beese und Brigitte Schneider zu regionalspezifischen Bedingungen weiblicher Erwerbsarbeit bereits eine Reihe von historischen Forschungen vor.4 Wenngleich der in den 1970er Jahren einsetzende Strukturwandel und die Ende der 1960er Jahre forcierte Bildungsreform Frauen als die vermeintlichen ‚Gewinnerinnen‚ ausweist, nicht zuletzt da auch sie nun in den Ausbildungsinstitutionen und im Beruf nach vorheriger – angeblicher – fast vollständiger Abstinenz in Erscheinung traten, sorgen traditionelle Vorurteile und Jahrzehnte alte mentale Dispositionen auch heute noch dafür, dass sowohl die Zahl der Studentinnen als auch die Erwerbstätigenquote von Frauen im Ruhrgebiet weit unter dem Bundesdurchschnitt liegen (Ruth Kampherm).5 Ebenso zeigten sich hier lange Zeit kaum Veränderungen in der geschlechterspezifischen Arbeitsteilung, weder in der als ‚männlich‚ vorgestellten Arbeitswelt noch in dem als ‚weiblich‚ konnotierten Privatleben.

Schon früh entlarvte die historische Frauen- und Geschlechterforschung die angeblich naturgegebene Grenzziehung zwischen einer männlich kodierten Öffentlichkeit und einer weiblich kodierten Privatsphäre als eine einflussreiche ideologische Konstruktion (Karin Hausen), die vornehmlich dazu dient, eine Geschlechterhierarchisierung auf der Ebene der Arbeitsteilung wie auch der Ebene der rechtlichen, politischen und sozialen Partizipation zu legitimieren.6 Nicht ohne Grund finden sich unter den Veröffentlichungen zur Frauen- und Geschlechtergeschichte des Ruhrgebiets zahlreiche Studien, allen voran die Arbeiten von Jutta de Jong, die dieser angeblichen Grenzziehung nachgehen.7 So war es doch insbesondere der ‚Arbeiteradel‚ des Ruhrgebiets, nach dessen Vorstellung der Haushalt in erster Linie den Ort der Konsumtion bzw. Reproduktion der Arbeitskraft darstellen sollte. Diese männlichen ‚Vorstellungen‚ von Hausarbeit, die mit diesem Ort weniger die ‚Arbeit‚ als die Freizeitgestaltung und das Privatleben identifizierten, sollten schließlich auch ihren Charakter bestimmen: Ihre Verdrängung aus dem Bereich der gesellschaftlichen Arbeit, ihre Umdefinition in das Wesen der Frau einerseits und die Ab­spaltung regenerativer Teile aus dem Erwerbsprozess andererseits. Sie ermöglichten es auch, diese Arbeit als „Liebesarbeit“ zu deklarieren, als Arbeit, die eigentlich keine Arbeit im produktiven Sinne darstellte, und somit für die Schaffung eines privaten Lebensmilieus, für die Kompensation der leidvollen Erfahrungen in der arbeitsteiligen Erwerbsarbeit bestens geeignet erschien.

Darüber hinaus wurde in den auf Arbeiterfrauen zugeschnittenen Haushalts- und Erziehungsratgebern auch die von Frauen ausgeübte Erwerbsarbeit diskreditiert, indem zwischen einem idealen Anspruch und einer misslichen Notlage unterschieden wurde: zwischen einer Erwerbsarbeit, die für Männer aller Schichten nicht nur als existentiell, sondern auch als ehrenvoll galt, für Frauen hingegen lediglich als Notlösung gewertet wurde. Nur so ist es zu erklären, wie mit der beginnendenden Industrialisierung tausendfache, reale außerhäusliche Erwerbesarbeit von Frauen in öffentlichen Diskussionen als Abweichung vom weiblichen Lebensmuster aufgefasst wurde, andererseits die unbezahlten Tätigkeiten von Frauen im Haushalt und in den Familien als weiblich-natürlich verklärt und schließlich – weil als höchst privat deklariert – zusehends als ‚selbstverständlich‚ verstanden und damit aus den Augen verloren wurde (Olge Dommer; Heidi Otto).8 Ein wesentliches Verdienst bereits der frühen Frauenforschung der 1970er und 1980er Jahre war es, diese sogenannten ‚re-produktiven‚ Tätigkeiten im Pflege-, Erziehungs- und Haushaltsbereich ans Licht der Öffentlichkeit gebracht, die angebliche ‚Natürlichkeit‚ der Aufgabenzuschreibungen als Mythos enttarnt zu haben und mit Forderungen nach einer gerechten pekuniären Entlohnung an die Öffentlichkeit getreten zu sein (Verena Bruchhagen/Gisela Steenbuck).9

Dass hingegen das Thema ‚Freizeitgestaltung‚ – als (modernes) Pendant zum Gegenbegriff ‚Arbeit‚ – innerhalb der historischen Frauen- und Geschlechterforschung kaum Platz findet und in den bisherigen Forschungen zum Ruhrgebiet außer der Erwähnung von Frauen beim Fußball völlig fehlt (Nicole Selmer), ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass die vermeintlich geschlechtsneutrale Zweiteilung des Lebens in Arbeit und Freizeit auf das Gros von Frauen aller Schichten bis weit in das 20. Jahrhundert nicht zutraf.10 Stattdessen wäre es – nicht nur aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive – sinnvoll, dieses selbstverständliche Konzept historischen Denkens grundsätzlich in Frage zu stellen. So lassen sich – wie die Forschungen von Carola Sachse zeigen – am Beispiel des Hausarbeitstages die unterschiedlichen gesellschaftlichen Vorstellungen über die gerechte Verteilung von Arbeit und Freizeit und damit von sozialem Status und entsprechenden Handlungsmöglichkeiten zwischen Männern und Frauen wie in einem Brennspiegel erforschen.11 Ebenso ist dem Mythos von der jungen, ledigen Frau als ‚klassische‚ Konsumentin nachzugehen (Gerhard Haupt), die zum Inbegriff einer neuen angeblichen klassenübergreifenden Freizeitkultur stilisiert wurde.12

Es scheint kein Zufall zu sein, dass junge Frauen und Mädchen eher mit ‚Konsum‚ denn mit ‚Freizeit‚ in Verbindung gebracht werden – hier scheint es eine selbstverständliche Analogie zu dem Begriff der hausfraulichen ‚Reproduktion‚ zu geben, der statt den ‚Gebrauch‚ und Nutzen den ‚Verbrauch‚ und die Verschwendung betont. Auffällig ist auch, dass Mädchen generell nur selten in historischen Darstellungen zu Jugendkulturen Erwähnung finden (Barbara Duka/Rosemarie Möhle-Buschmeyer).13 Schließlich hat die historische Jugendforschung den zeitgenössischen Jugendbegriff häufig einfach übernommen, ohne zu reflektieren, dass mit ‚Jugendlichkeit‚ und ‚Jugendliche‚ lediglich ‚männliche Jugendliche‚ in den Blick gerieten. Seit einigen Jahren hat die historische Geschlechterforschung, allen voran Christine Benninghaus, mehrfach darauf hingewiesen hat, dass die seit Ende des 19. Jahrhunderts virulente „Jugendfrage“ ausschließlich mit Blick auf männliche Lebensläufe und männliche Verhaltensweisen entwickelt wurde, weshalb diese sich nur bedingt auf weibliche Jugendliche übertragen lasse.14 Insbesondere Forschungen zu jugendlichem nonkonformen Verhalten schlossen Mädchen zumeist von vornherein als defizitäre Wesen aus, wurde ihnen doch per se unterstellt, ‚angepasster‚ zu sein. Hier gilt es die Kategorien ‚Anpassung‚ versus ‚Nonkonformität‚ vor dem Hintergrund eines peer-group-Systems alternativer Spielregeln neu zu überdenken, wie auch angebliche Anpassungsleitungen von Mädchen an herrschende Gesellschaftsnormen als Strategien zu lesen, sich sexualisierter Diskriminierung inner- und außerhalb ihrer peer groups zu entziehen. Ein großes Desiderat (geschlechter-)historischer Untersuchungen stellt darüber hinaus die Erforschung gemeinschaftsstiftender weiblicher Jugendgruppen dar. Bislang gibt es kaum Studien, die sich mit Mädchen in der Jugendbewegung bzw. in staatlich oder verbandlich organisierten Jugendgruppen beschäftigen (Petra Kamburg/Anne Trepaß).15

Stattdessen gerieten Mädchen und junge Frauen häufig nur dann in den ForscherInnenblick, wenn diese (häufig erzwungenermaßen) sexuell ‚auffällig‚ wurden. Themen wie ‚Prostitution‚ (Ursula Bergmann; Christiana Hilpert-Fröhlich; Frieder-Wilhelm Stallberg) und daran anschließend ‚sittliche Verwahrlosung‚ (Ursula Olschewski; Petra von der Osten; Andreas Wollasch), die von den Erziehungsbehörden mit (meist dragonischen) Fürsorgemaßnahmen (Markus Köster) beantwortet wurden, korrespondierten mit Weiblichkeitsbildern, in denen sexuelle Moralurteile eine fatale Bedeutung erhielten, wobei ‚Sünde‘ und die Bestrafung weiblich-sündhaften-devianten Verhaltens nicht nur die Maßnahmenkataloge in kirchlichen Einrichtungen dominierten.16 Diese Zusammenhänge aufgedeckt und in das Analyserepertoir der Wissenschaft eingebracht zu haben, gehört sicherlich zu einem der herausragenden Ergebnissen in der Zusammenarbeit von praktischer feministischer Basisarbeit und universitärer Frauen- und Geschlechterforschung. In diesem Zusammenhang sind sicherlich auch die Forschungen einzuordnen, die sich aus geschlechterhistorischer Sicht mit der Geschichte der Bevölkerungspolitik, Rassenhygiene und Eugenik im Nationalsozialismus beschäftigen (Carola Kuhlmann; Gisela Schwarze).17 Nicht zuletzt die Arbeiten zur Bevölkerungs- und Sexualpolitik machten deutlich, in welch hohem Maße sich auch noch die nachfolgende bundesrepublikanische Gesellschaft in Kontinuität zu manchen Zuschreibungen und Verurteilungen befand (Dagmar Herzog).18

Dazu gehörte sicherlich auch die unhinterfragte Zuschreibung, dass erst die (einmalige) Ehe- und (mehrmalige) Mutterschaft ein weibliches Wesen zur ‚Frau macht‚. Ledige Frauen wie auch Frauen, die in (Lebens-)Gemeinschaften mit Frauen lebten, schieden hier von vornherein aus. Ihnen wurde im besten Fall eine ‚gewisse Unreife‚ unterstellt, was durch das Prädikat ‚Fräulein‚ noch unterstützt wurde, mit dem sich die Frauen noch bis ins hohe Alter zufrieden geben mussten. Zudem wurde ihnen unterstellt, dass sie nach dem Zweiten Weltkrieg nur ‚aus Not‚ und unfreiwillig ob des als ‚Frauenüberschuss‚ titulierten Männermangels unehelich geblieben waren. Auch wurden jene Frauen aus der herrschenden Geschlechterordnung ausgegrenzt, die aus Zwang ehelos bleiben mussten, wollten sie ihren (meist mit einer akademischen Ausbildung verbundenen) Beruf als Beamtin weiterführen (Ulrike Gilhaus/Julia Paulus/Anne Kugler-Mühlhofer).19

Wer schließlich zwar ehelos blieb, aber dennoch Kinder gebar, musste noch bis weit in die Gegenwart mit Diskriminierungen kämpfen. Und selbst jene, die zwar nicht freiwillig und dazu noch ‚unverschuldet‚ ihren Ehemann überlebten, mussten als Witwen um ihr Ansehen kämpfen, zumal wenn sie wie die ‚unehelichen‚ Mütter als Alleinerziehende einer Erwerbsarbeit nachgehen mussten, um sich und die Kinder zu ernähren. Die beiden Grundlagenstudien von Sybille Buske zur Geschichte der Unehelichkeit und von Anna Schnädelbach zur Lebenssituation von Witwen machen Hoffnung, dass diese bislang unberücksichtigte Geschichte von Frauen zum Anlass genommen wird, am Beispiel von regionalen und lokalen Studien weiteren ‚nonkonformen‚ und/oder widerständigen weiblichen Lebensläufen nachzugehen.20

Hierzu gehören sicherlich auch Untersuchungen zu Ein- und Zuwanderinnen, die qua Herkunft, Hautfarbe oder Sprache per se mit Formen des Ausschlusses bedroht waren. Auch hier konnte die historische Geschlechterforschung Pionierarbeit leisten, verband sie doch frühzeitig die Frage, wie sich Geschlecht als Differenzkategorie mit anderen ähnlichen Kategorien wie Klasse/soziale Herkunft und Ethnie/kulturelle Herkunft verbindet. Sowohl für nichtdeutsche Migrantinnen, die sich parallel zum Aufstieg des Ruhrgebiets als Industrieregion seit dem 19. Jahrhundert hier ansiedelten, wie für die nach dem Zweiten Weltkrieg aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten vertriebenen Frauen stellten und stellen sich Probleme der gesellschaftlichen und kulturellen Integration oft völlig anders dar als für männliche Einwanderer und Vertriebene. Am Beispiel der zum Überleben der Gesamtfamilie notwendig gewordenen Aufnahme einer Erwerbsarbeit wird deutlich (Anke Asfur; Monika Mattes), welchen Herausforderungen sich die Frauen gegenüber sahen. Häufig genug hatten sie nicht nur mit Konflikten zu kämpfen, die durch die jeweilige Familientradition und Herkunftskultur bestimmt waren, sondern vor allem mit Ressentiments seitens einer an konservativen Geschlechterrollenleitbildern orientierten bundesdeutschen Gesellschaftskultur.21 Für eine auch an gegenwärtigen Fragen der Einwanderungsgesellschaft interessierten Geschichtsforschung wäre es wesentlich, diese Zusammenhänge weit mehr als bisher in den Blick zu nehmen und danach zu fragen, welchen spezifischen Inklusionen und Exklusionen Frauen mit Migrationshintergrund ausgesetzt waren und sind (Natalie Grunewald; Sigrid Metz-Göckel, Sigrid/A. Senganata Münst; Ursula Boos-Nünning/Berrin Özlem Otyakmaz), aber auch, welche Befähigungen und spezifischen Verhaltensdispositionen diese Frauen ausbildeten und an ihre Töchter und Enkelinnen weitergaben, die uns heute als überraschende Emanzipationsentwürfe erscheinen.22

Im Gegensatz zu diesem erst in den letzten Jahren öffentlich diskutierten Thema, finden sich auch im Ruhrgebiet bereits seit einigen Jahren vielfältige Forschungen zu dem Themenbereich ‚Frauen in der Politik‚. Hier allerdings dominieren in den zahlreichen Sammelbänden zu(r) lokalen Frauengeschichte(n) noch vornehmlich Darstellungen zur Arbeit von Frauen in Parlamenten und Räten. Dagegen mangelt es bislang noch an Studien zum Engagement von Frauen in (Vorfeld-)Organisationen, Bewegungen und Kampagnen, die nicht nur politische Aktivitäten von Frauen im engeren Sinne im Blick haben, sondern auch deren öffentliche Handlungsformen jenseits der institutionalisierten Politik (Brigitte Denecke; Jutta Beyer/Everhard Holtmann).23 Gerade an regionalen Beispielen lässt sich z.B. über biografiegeschichtliche Zugriffsweisen politische Partizipation in einem weiteren Sinne verstehen: als umfassendes Engagement der an gesellschaftlichen Prozessen beteiligten Frauen. Zudem lässt sich hier konkret nach dem Selbstverständnis, dem jeweiligen Politisierungsprozess, den politischen Strategien und (geschlechts-)spezifischen Zugangs- und Handlungsmöglichkeiten sowie dem Umgang mit Macht nachgehen.

Nimmt man all diese angesprochenen Perspektiven auf und verbindet sie mit Fragen nach der Konstruktion von ‚Räumen‚ die die Beziehungen verschiedener Gruppen zueinander und untereinander regeln, so lassen sich Antworten gewinnen auf Fragen:

– nach den Konstruktionsmechanismen bei der Herstellung asymmetrischer Geschlechterbeziehungen;

– nach der Zuordnung von sogenannten „Geschlechtscharakteren“ im Raum;

– nach den Regeln der Gestaltung, Beeinflussung, Besetzung und Nutzung von Räumen durch Frauen und Männer.

Spätestens bei dieser Frage kämen auch die scheinbar so geschlechtslosen „Männlichkeiten“ in den Blick, deren Stereotype sich oftmals vor dem Hintergrund eines scheinbar homogenen Regionenbildes – wie im Falle des Ruhrgebiets – lediglich zu Repräsentationsfiguren von Stahl- oder Bergarbeitern, Fußballhelden oder kämpferischen Gewerkschaftsfunktionären verdichtet haben und jegliche Konflikte um die Repräsentation anderer Männlichkeiten vernebelten. In diesem Sinne ist der Raum bzw. die Region, stets vergeschlechtlicht, wie gleichzeitig auch die tradierte Geschlechterdifferenz wiederum durch den Raum bestätigt und geformt wird. Somit beinhaltet die Herstellung und Beibehaltung der Geschlechterdifferenz klare räumliche Vorstellungen und Praktiken der Aneignung – Konstruktionsvorgänge, die sichtbar zu machen wären, genauso wie all diejenigen Grenzerfahrungen, die durch die Homogenisierungsprozesse in den Darstellungen zur Geschichte eines Raums meist außen vor bleiben. Dazu zählen insbesondere all jene kreativen Leistungen von Frauen, die – angesichts ihrer vorgeblichen Nicht-Präsenz im ‚öffentlichen‚ Raum – als Un-Orte oder Devianzen, nur selten überliefert sind. Erst durch eine solche Sichtweise ließen sich die für Frauen von der Forschung allzu oft vernachlässigten ‚Grenzerfahrungen‚ und ‚Grenzüberschreitungen‚ deutlicher herausarbeiten. Diese Sichtweise birgt allerdings auch die Gefahr in sich – neben der Neu-Etablierung und somit Aneignung von bislang nicht vorhandenen Erinnerungsorten – eigen-ständige Lebenskulturen von Frauen, die zuvor unsichtbar gewesen waren, gewissermaßen künstlich zu beheimaten. Hier gilt es stattdessen die Prinzipien und die Bedeutung des Unsichtbarseins oder -machens weiterhin kritisch zu hinterfragen, um nicht von der traditionellen Vergangenheits- bzw. Gedächtnispolitik vereinnahmt zu werden.

Literaturliste

Julia Paulus / LWL

  1. Schürmann, Sandra: Dornröschen und König Bergbau. Kulturelle Urbanisierung und bürgerliche Repräsentationen am Beispiel der Stadt Recklinghausen (1930-1960), Paderborn 2005, S. 12.
  2. Vgl. z.B. Reich, Doris: Frauenforschung in der Raumplanung: Aktivitäten im Fachbereich an der Universität Dortmund, in: Raumplanung 1987, S. 28-32; Sturm, Gabriele: Die Hälfte der Planung? Das Beispiel der Beteiligung von Frauen an (Wohn-) Projekten der Internationalen Bauausstellung Emscher Park, in: Müller, Sebastian (Hg.): Die Moderne im Park?, Dortmund 1993, S. 133-148.
  3. Eifert, Christiane u.a. (Hg.): Was sind Frauen, was sind Männer? Geschlechterkonstruktionen im historischen Wandel, Frankfurt/Main 1996.
  4. Vgl. z.B. Schlüter, Anne: Die Ausbildungs- und Berufschancen von Frauen im Ruhrgebiet, in: Jahrbuch Arbeit, Bildung, Kultur 18.2000, S. 163-178; Schlüter, Anne: Studierende aus Arbeiterfamilien im Ruhrgebiet – Bildungsentscheidungen ohne familiäre Vorbilder?, in: Barbian, Jan-Pieter und Ludger Heid (Hg.): Die Entdeckung des Ruhrgebiets. Das Ruhrgebiet in Nordrhein-Westfalen 1946-1996, Essen 1997, S. 315-328; Hieber, Hanne: Seit 1908: Mädchen machen Abitur! Studien- und Berufswege von Mädchen aus Dortmund, in: Heimat Dortmund 2008, H. 1, S. 7-13; Beese, Birgit und Brigitte Schneider: Arbeit an der Mode. Zur Geschichte der Bekleidungsindustrie im Ruhrgebiet, Essen 2001.
  5. Kampherm, Ruth und Katja Brickau: Trotz besserer Chancen für Frauen noch immer keine Chancengleichheit. Nur partielle Verbesserung durch den Strukturwandel, in: Standorte 1997/98 (1998), S. 318-326.
  6. Hausen, Karin: Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Conze, Werner (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Stuttgart 1976, S. 363-393.
  7. Jong, Jutta de: Zur Dialektik von männlicher Arbeitswelt und weiblicher Alltagskultur am Beispiel von Bergarbeiterfamilien. Ein erster Versuch, sich der Bedeutung von Frauenkultur innerhalb der Arbeiterkultur zu nähern, in: Forschungsinstitut für Arbeiterbildung. Beiträge, Informationen, Kommentare Nr. 7, 1988, S. 108-113.
  8. Vgl. z.B. Dommer, Olge: „Dass wir das überhaupt geschafft haben“. Hausmütter in Dortmunder Pestalozzidörfern, in: Heimat Dortmund 2003, H. 2, S. 32–34; Otto, Heidi: „Hausarbeit ist Frauensache, sagte mein Vater“. Erinnerungen einer Hausfrau. Interview mit M. Sch., geb. 1934 in Gelsenkirchen in der Martinstraße am Neustadtplatz, in: Keine GEschichte ohne Frauen, hg. v. Frauenbüro der Stadt Gelsenkirchen, Gelsenkirchen 1992, S. 79-83.
  9. Bruchhagen, Verena und Gisela Steenbuck: Frauenstudien. Das Dortmunder Konzept, in: Gieseke, Wiltrud (Hg.): Handbuch zur Frauenbildung, Opladen 2001, S. 473-482.
  10. Selmer, Nicole: Die Frauen auf den Tribünen – Ein ungeschriebnes Kapitel der Fußballgeschichte, in: Goch, Stefan (Hg.): Wo das Fußballherz schlägt, Essen 2006, S. 185-194.
  11. Sachse, Carola: Der Hausarbeitstag. Gerechtigkeit und Gleichberechtigung in Ost und West 1939-1994, Göttingen 2002.
  12. Haupt, Heinz-Gerhard: Konsum und Geschlechterverhältnisse. Einführende Bemerkungen, in: Siegrist, Hannes, Hartmut Kaelble und Jürgen Kocka (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18.-20.Jahrhundert), Frankfurt 1997, S. 395 –410.
  13. Duka, Barbara und Rosemarie Möhle-Buschmeyer: Weibliche Jugendliche in Zechensiedlungen. Zum Mädchenalltag zwischen den Weltkriegen, in: Breyvogel, Wilfried und Heinz-Hermann Krüger (Hg.): Land der Hoffnung – Land der Krise. Jugendkulturen im Ruhrgebiet 1900-1987, Berlin 1987, S. 70-77.
  14. Vgl. u.a. Benninghaus, Christina: Verschlungene Pfade – Auf dem Weg zu einer Geschlechtergeschichte der Jugend, in: dies. und Kerstin Kohtz (Hg.):„Sag mir, wo die Mädchen sind …“ Beiträge zur Geschlechtergeschichte der Jugend, Köln u.a. 1999, S. 9-32; Benninghaus, Christina: Mädchen – das unbekannte Wesen? Forschungen zur weiblichen Jugend im deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Fiseler, Beate und Birgit Schulze (Hg.): Frauengeschichte – gesucht – gefunden? Auskünfte zum Stand der Historischen Frauenforschung, Köln 1991, S. 75-91.
  15. Kamburg, Petra und Anne Trepaß: „Mädels“ zwischen Volkstanz und Klassenkampf. Die Rolle der Mädchen in SAJ und KJ, in: Behrens-Cobet, Heidi (Hg.): Rote Jugend im schwarzen Revier, Essen 1989, S. 52-65.
  16. Bergmann, Ursula: Prostitution und staatliche Prostitutionspolitik im Segeroth seit der Jahrhundertwende, in: Bajohr, Frank und Michael Gaigalat (Hg.): Essens wilder Norden. Segeroth – ein Viertel zwischen Mythos und Stigma, Essen 1990, S. 19-27; Hilpert-Fröhlich, Christiana: „Auf zum Kampfe wider die Unzucht“. Prostitution und Sittlichkeitsbewegung in Essen, 1880-1914, Bochum 1991; Stallberg, Frieder-Wilhelm: Eine Stadt und die (Un-)Sittlichkeit. 100 Jahre Prostitutionspolitik in Dortmund, Dortmund 1992; Olschewski, Ursula: Elisabeth Zilken. Leben und Wirken der Präsidentin des katholischen Fürsorgevereins für Mädchen, Frauen und Kinder, in: Lebensläufe im Sozialkatholizismus des Ruhrgebiets, hg. v. Bistum Essen, red. v. Horst Großjung, Essen 2003, S. 104-115; Osten, Petra von der: Jugend- und Gefährdetenfürsorge im Sozialstaat. Auf dem Weg zum Sozialdienst katholischer Frauen 1945-1968, Paderborn 2003; Wollasch, Andreas: 1899-1999. 100 Jahre Sozialdienst katholischer Frauen. Von der Fürsorge „für die Verstoßenen des weiblichen Geschlechts“ zur anwaltschaftlichen Hilfe, Dortmund 1999; Köster, Markus: Jugend, Wohlfahrtsstaat und Gesellschaft im Wandel. Westfalen zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik, Paderborn 1999.
  17. Kuhlmann, Carola: Erbkrank oder erziehbar? Jugendhilfe zwischen Zuwendung und Vernichtung in der Fürsorgeerziehung in Westfalen 1933-1945, Weinheim 1989; Schwarze, Gisela: Kinder, die nicht zählten. Ostarbeiterinnen und ihre Kinder im Zweiten Weltkrieg, Essen 1997.
  18. Herzog, Dagmar: Politisierung der Lust, München 2005.
  19. Gilhaus, Ulrike, Julia Paulus und Anne Kugler-Mühlhofer (Hg.): Wie wir wurden, was wir nicht werden sollten. Frauen im Aufbruch zu Amt und Würden, Essen 2010.
  20. Buske, Sybille: Fräulein Mutter und ihr Bastard. Eine Geschichte der Unehelichkeit in Deutschland 1900-1970, Göttingen 2004; Schnädelbach, Anna: Kriegerwitwen. Lebensbewältigung zwischen Arbeit und Familie in Westdeutschland nach 1945, Frankfurt am Main 2009.
  21. Asfur, Anke: Vertriebene Frauen im Aufbau West. „…und es war nicht anders möglich, als dass ich dann das Schneiderhandwerk lernte. Da wurde gar nicht lange gefackelt“, in: Kift, Dagmar (Hg.): Aufbau West. Neubeginn zwischen Vertreibung und Wirtschaftswunder, Essen 2005, S. 246-251; Mattes, Monika: „Gastarbeiterinnen“ in der Bundesrepublik. Anwerbepolitik, Migration und Geschlecht in den 50er bis 70er Jahren, Frankfurt am Main 2005.
  22. Grunewald, Natalie: Konfliktmanagement und MigrantInnen am Beispiel der Dortmunder Nordstadt, in: Bursa, Ülkü und Ivonne Fischer-Krapohl (Hg.): Raum und Migration, Dortmund 2007, S. 183-197; Metz-Göckel, Sigrid und A.Senganata Münst: Zur aktuellen Pendelmigration polnischer Frauen ins Ruhrgebiet, in: Kift, Dagmar und Dietmar Osses (Hg.): Polen-Ruhr. Zuwanderungen zwischen 1871 und heute, Essen 2007, S. 74-82; Boos-Nünning, Ursula und Berrin Özlem Otyakmaz: Multikultiviert oder doppelt benachteiligt? Die Lebenslagen von Mädchen und jungen Frauen aus Arbeitsmigrationsfamilien in Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2000.
  23. Denecke, Brigitte: „Wir hatten eine Kraft, das glaubt man nicht.“ Frauenalltag und Frauenpolitik der Nachkriegsjahre in Dortmund und Hamm, Dortmund 1997; Beyer, Jutta und Everhard Holtmann: „Auch die Frau soll politisch denken“ – oder: „Die Bildung des Herzens“. Frauen und Frauenbild in der Kommunalpolitik der frühen Nachkriegszeit 1945-1950, in: Archiv für Sozialgeschichte 25.1985, S. 385-419.
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