Der lange Zeitraum des Mittelalters vom 8. Jahrhundert unserer Zeit bis um 1500 umfasst mit den früh-, hoch- und spätmittelalterlichen Gesellschaften sehr unterschiedliche Strukturen des Zusammenlebens, die jeweils verschiedene Rahmenbedingungen für die Lebensentwürfe und Handlungsspielräume von Frauen und Männern vorgaben. Angesichts der zeitlichen Distanz von zum Teil mehr als 1000 Jahren zur Gegenwart stellt sich einerseits die Frage nach der Erforschbarkeit mittelalterlichen weiblichen Lebens, andererseits aber auch die Frage nach der Beurteilbarkeit der Geschlechterverhältnisse einer vergangenen Zeit mit anderen materiellen Bedingungen und einer anderen psychischen und mentalen Konstitution durch die heutigen Bewertungsmaßstäbe. Beide Fragen können – mit Einschränkungen – positiv beantwortet werden.
Alle sich entwickelnden Lebensformen – im klösterlichen Bereich, in der adeligen, der stadtbürgerlichen und der bäuerlichen Lebenswelt – haben in unterschiedlicher Dichte sowohl materielle als auch urkundliche Zeugnisse hinterlassen, die Auskunft über Normen und rechtliche Rahmenbedingungen geben, denen die weibliche Lebensgestaltung unterlag, und die unter Umständen auch über die konkrete Ausgestaltung des Lebens und einzelne Handlungen berichten. Sie gestatten jedoch nur selten einen Blick auf das individuelle Schicksal der Frauen. Lediglich im späten Mittelalter stehen mit der dichteren Überlieferung gelegentlich auch Quellen zur Verfügung, die einzelne Frauen als Personen sichtbar werden lassen, und die eine Erforschung des Alltagslebens zumindest in Teilbereichen ermöglichen. Diese Situation trifft auf das gesamte mittelalterliche Kaiserreich zu und kennzeichnet daher auch die Region des (heutigen) Ruhrgebiets.
Die Forschung hat sich bisher vor allem mit Verhältnissen beschäftigt, zu denen schriftliches Quellenmaterial vorliegt: Die kirchenrechtliche Verfassung und die Grundherrschaft der großen Damenstifte und Klöster, das Auftreten der Beginen und das Leben der spätmittelalterlichen (Ehe-) Frauen in den Städten sowie in einer erweiterten Perspektive die Religiosität von unterschiedlichen Frauengemeinschaften sind bearbeitet worden. Dabei entstanden vorwiegend Einzelstudien. Chronologische Längsschnitte zu den weiblichen Lebensverhältnissen des Mittelalters in der Region oder Darstellungen einzelner Epochen, die die Lebensbedingungen von Frauen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen vergleichend analysieren, gibt es bisher nicht. Dies ist zur Zeit auch kaum zu leisten, da große Defizite z. B. bei der Erforschung der städtischen Frauen, insbesondere ihrem Anteil am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben, aber auch ihrem Anteil an der im Spätmittelalter sehr wichtigen familiären Seelenheilvorsorge festzustellen sind. Noch weniger bearbeitet ist das Leben der verheirateten adeligen Frauen sowohl der führenden Territorialherrschaften als auch des Niederadels und dasjenige der abhängigen bäuerlichen Schicht.
Die bisherige Forschung lässt sich in drei zeitlich aufeinander folgende Abschnitte einteilen: Während in den älteren wissenschaftlichen Arbeiten nur einige wenige, gut erfassbare Klöster und Damenstifte als geschichtliche Akteure innerhalb der Region wahrgenommen und ereignisbezogen erforscht wurden, setzte in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts eine reflektiertere Erforschung weiblicher Lebenszusammenhänge ein, die einerseits einen großen Wissenszuwachs hinsichtlich der Vielfalt und Komplexität des Lebens von Frauen erbrachte und andererseits zumindest in einem Teil der Arbeiten auch geschlechterdifferenzierende Fragestellungen enthielt. Dabei waren vor allem die Geschichtsmächtigkeit einzelner Frauen von Interesse, welche zum Teil in herausgehobenen Positionen einen hohen politischen Gestaltungsspielraum hatten, sowie die Schaffung von Handlungsfreiräumen und neuen Lebensformen (Beginen). Eng damit zusammenhängend wurden die Strukturen der Begrenzung weiblicher Lebensentwürfe deutlich benannt, die sich durch die grundsätzliche Forderung einer Unterordnung sowohl der geistlich als auch der weltlich lebenden Frauen unter die Entscheidungsgewalt von Männern ergaben und die die Frauen gleichermaßen von politischen Ämtern, von einer kirchlichen Karriere oder der priesterlichen, über die Sakramente verfügenden Kompetenz ausschloss. Einzelne Arbeiten konnten zeigen, dass auch im Mittelalter die Verfügung über eigenen Besitz, einen hoher Bildungsstand und eine gesellschaftlich hochrangige Position den Frauen am ehesten Möglichkeiten für eine eigene Lebensgestaltung eröffneten, die in höherem Maße als früher angenommen, auch genutzt worden sind.
Zur Zeit entstehen unter unterschiedlichen Perspektiven Einzelstudien zu Aspekten wie der rechtlichen Situierung der bürgerlichen Frauen in den Städten, zu ihrer Rolle als Ehefrauen in produzierenden Handwerksbetrieben, aber auch zu einzelnen kostbaren Schenkungen im kirchlichen Bereich, zur Symbolik von repräsentativen Handlungen oder zur praktischen Organisation innerhalb eines Frauenklosters, die weitgehend losgelöst von einem diskursiven Zusammenhang erscheinen. Diese Arbeiten erweitern die Wissensgrundlagen zu weiblichen Lebensverhältnissen kontinuierlich; sie sind jedoch zum Teil strikt sachbezogen angelegt und reflektieren die Differenz der Geschlechter in der Geschichte häufig nur implizit. Neben der Bearbeitung der oben genannten Defizite müssen in Zukunft in stärkerem Maße neben den Textzeugnissen auch Architektur, Bildmaterial und Alltagsgegenstände als Quellen einbezogen werden. Daneben scheint es erforderlich zu sein, vor allem die Diskussionszusammenhänge der Forschenden zu stärken und auch kontroverse Auseinandersetzungen zur Bewertung der erarbeiten Verhältnisse mittelalterlichen Frauenlebens zuzulassen.
Iris Grötecke
Beitrag (ohne Bilder und Quellen) lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0, International Lizenz Creative Commons Lizenzvertrag
Copyright © 2019 frauen/ruhr/geschichte und Autor_in.