Für die Neuzeit verzeichnet unsere Literaturliste über 600 Titel, das sind fast zwei Drittel aller Titel der Liste. Die meisten erschienen seit den 1980er Jahren. Ein auslösender Faktor für diesen Boom dürften die Impulse aus der neuen Frauenbewegung gewesen sein, die sich in einer Verankerung von Frauengeschichte in den Universitäten, Volkshochschulen und Geschichtsinitiativen manifestierten. Diese Entwicklung wurde verstärkt durch den sozial- und biographiegeschichtlichen „turn“ in der Geschichtswissenschaft, in dessen Folge bislang vernachlässigte gesellschaftliche Gruppen in den Vordergrund rückten. Ein weiterer Faktor kam mit dem Einfluss der Bewegung „grabe, wo du stehst“ dazu, die zahlreiche lokale und regionale Geschichtsprojekte zu einer Spurensuche vor Ort und zu einer „Geschichte von unten“ inspirierte.
Schließlich regte in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre das große Oral-History-Projekt „Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet“ (LUSIR) dazu an, die Bewohner und Bewohnerinnen der Region selbst zu Wort kommen zu lassen.1 Gemeinsames Ziel all dieser Richtungen war es, die Menschen nicht nur als Objekte von Strukturen zu zeigen, sondern auch als handelnde Subjekte.
Die Schwerpunkte der Titel zum 19. und 20. Jahrhundert liegen auf den Themen, die auch die allgemeine Sozialgeschichte lange Zeit dominierten: soziale Bewegungen und Arbeit. Beim ersten Themenfeld nimmt die Frauenbewegung – wenig überraschend – den größten Raum ein. Weitere Schwerpunkte sind Frauen in Politik und Parteien, in Kirche und kirchlichen Einrichtungen, im Widerstand gegen den Nationalsozialismus sowie für die jüngere Vergangenheit in Arbeitskämpfen um gleichen Lohn oder in der Strukturkrise. Beim Thema Arbeit dominieren Untersuchungen insbesondere zur industriellen Erwerbsarbeit. Weitere Schwerpunkte sind Hausarbeit, Alltag und Familienleben in der Kolonie. Eng mit diesen hängen die Themen Schule, Ausbildung und Bildung zusammen, die vor allem in den 1990er Jahren aufgegriffen wurden.
Dass das Thema Arbeit eine zentrale Rolle spielt, ist in einer Industrieregion wie dem Ruhrgebiet auf dem ersten Blick zwar selbstverständlich, auf dem zweiten gleichwohl überraschend: Immerhin wurde diese Region im 19. und 20. Jahrhundert vor allem von der Montanindustrie geprägt, d.h. einer Industrie, in der Frauen (angeblich) gar nicht „arbeiteten“. Dennoch wurde gerade hier zuerst und am intensivsten nach dem Beitrag der Frauen und ihrer Arbeit geforscht.
Ein wichtiger Impulsgeber war 1989 die Ausstellung „Frauen und Bergbau“ des Deutschen Bergbau-Museums in Bochum bzw. der Katalogbeitrag „Die andere Arbeit für den Bergbau“ von Jutta de Jong.2 De Jong machte deutlich, dass die Reproduktionsarbeit der Bergarbeiterfrauen weit mehr war als die übliche unbezahlte Hausarbeit von Ehefrauen für Ehemänner: Mit ihrer Bewirtschaftung von Stall und Garten ergänzten sie nicht nur die Löhne ihrer Männer; die betriebliche Bereitstellung von Gärten und Ställen zur Selbstversorgung „wurde auch lohnsenkend in der Kostenkalkulation der Bergwerke berücksichtigt“.3 Mit der Aufnahme und Versorgung von Kostgängern trugen sie nicht nur einen eigenen Teil zum Familieneinkommen bei, sie entlasteten gleichzeitig die Unternehmen beim Wohnungsbau. Mit dem Waschen und Flicken der Arbeitskleidung ihrer Männer ersparten sie schließlich den Zechen die Kosten für die Instandhaltung dieses Produktionsmittels. Durch ihren Ansatz, Produktions- und Reproduktionsbereich im Zusammenhang zu betrachten und die Wechselwirkungen zwischen beiden auszuloten, setzte Jutta de Jong neue inhaltliche und konzeptionelle Maßstäbe, die weit über Branche und Region hinauswiesen.
Mit Ausnahme der Bekleidungsindustrie spielen die anderen Industrien in der Frauengeschichtsschreibung des Ruhrgebiets noch immer eine eher untergeordnete Rolle.4 Im Zuge einer etwas intensiveren Befassung mit Nationalsozialismus, Krieg und Nachkriegszeit, die zum einen ebenfalls allgemeine Trends der Geschichtsforschung widerspiegelte, zum andern der Tatsache geschuldet war, dass es aus diesen Epochen noch Zeitzeuginnen gab, weitete sich zwar das Themenspektrum: von der Arbeit zur Zwangsarbeit, vom Überleben in Krieg, Lager oder Wiederstand zum Wiederaufbau in der Nachkriegszeit. Gleichwohl gibt es für die Epoche der Neuzeit immer noch mehr weiße Flecken als erforschtes Terrain: Frauenerwerbsarbeit im Dienstleistungssektor ist nur sehr fragmentarisch untersucht. Was Frauen nach der Arbeit gemacht haben, war bislang kaum Thema. Die neuere Migrationsgeschichte konzentriert sich immer noch vor allem auf die Arbeitsmigranten, nicht aber auf die Arbeitsmigrantinnen ins Ruhrgebiet. Und wie sich am Arbeitsplatz, in der Siedlung, in den sozialen Bewegungen und in der Freizeit der Metropole Ruhr geschlechtliche Identität konstituiert und verändert hat – das wäre für beide Geschlechter noch zu erforschen.
Dagmar Kift / LWL-Industriemuseum
- Niethammer, Lutz (Hg.), „Die Jahre weiß man nicht, wo man die heute hinsetzen soll“. Faschismuserfahrungen im Ruhrgebiet , Berlin/Bonn 1983 (= Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930 bis 1960, Bd. 1); Niethammer, Lutz (Hg.), „Hinterher merkt man, daß es richtig war, daß es schiefgegangen ist“. Nachkriegserfahrungen im Ruhrgebiet, Berlin 1983 (= Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930 bis 1960, Bd. 2); Niethammer, Lutz; von Plato, Alexander (Hg.), „Wir kriegen jetzt andere Zeiten“. Auf der Suche nach der Erfahrung des Volkes in nachfaschistischen Ländern, Berlin/Bonn 1985(=Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930 bis 1960, Bd. 3).
- Jong, Jutta de, Bergarbeiterinnen – oder Die andere Arbeit für den Bergbau, in: Frauen und Bergbau. Zeugnisse aus fünf Jahrhunderten. Ausstellung des Deutschen Bergbau-Museums Bochum vom 29. August – 10. Dezember 1989, Bochum 1989, S. 70-75.
- Ebd., S. 74.
- Auch hier war ein Ausstellungsprojekt der Ausgangspunkt: „Arbeit an der Mode“, ÖAG Arbeit und Leben an der VHS Gelsenkirchen, Gelsenkirchen 2004; s. dazu http://www.arbeit-an-der-mode.de/ausstellung.html.
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