Soula Palatianou ist 1950 als Soula Dikoliakou im Dorf Dafnoudi geboren, im Norden Griechenlands, nahe der Stadt Serres. Soula ist die Älteste von 3 Kindern. Schon als Mädchen von elf Jahren unterstützte sie ihren Vater Theofanis beim Anbau von Tabak. Das Einpflanzen im Mai war die schwierigste Arbeit, viele anstrengende Einzelschritte waren dafür nötig. Von einem Feld wurden die Setzlinge eingesammelt, um diese dann auf einem anderen, weit entfernten Feld wieder einzupflanzen. Das bedeutete viel Lauferei, Schlepperei, Plackerei.
Wir mussten alle auf die Knie. Wir fingen morgens um halb sechs an und arbeiteten bis neun oder zehn abends. Danach mussten wir dann noch eine Stunde zurück ins Dorf laufen.
Tabak
Im Juli bis September wurde geerntet. Auch die Ernte sei schwierig gewesen, erinnert sich Soula Palatianou heute. Immer habe ihr Vater sie und ihren jüngeren Bruder um zwei oder drei Uhr geweckt, er habe Kaffe gemacht, um die schlaftrunkenen Kinder aus dem Bett zu locken:
Wir hatten einen Esel und ein Pferd. Papa saß immer auf dem Esel, und wir beide auf dem Pferd, rechts und links in den Körben drin. Er hat uns da reingesetzt, und wir konnten nochmal schlafen. Bis zum Feld war es bestimmt eine Stunde. Manchmal schlief auch mein Vater auf dem Esel ein. Einmal sind mein Bruder und ich aus unseren Körben gefallen, da haben wir auf der Straße weiter geschlafen. Und unser Vater ist erst auf halbem Weg aufgewacht und hat gemerkt: da waren keine Kinder mehr! Damals gab es keine Autos, Gott sei dank!
Auf dem Feld erzählte der Vater seinen Kindern Märchen. Wie das der Stringla, einer Hexe oder Vampirin, die allen, die es mit ihr zu tun bekommen, Unheil bringt. Das Märchen war nicht kindgerecht. Aber es war spannend; und erfüllte damit seinen Zweck, die Kinder zur Arbeit zu motivieren.
Bis in die 1950er Jahre war die ganze Region von Makedonien, Thessalien und Thrakien vom Tabakanbau (auf dem Land) und von der Tabakverarbeitung (in den Städten) abhängig. Die Hafenstädte Kavala und Saloniki galten als Hauptumschlagplätze für den sogenannten „orientalischen“ Tabak.
Wie Soula stammen die meisten griechischen Auswanderer, die nach dem Anwerbeabkommen vom 30. März 1960 zur Arbeitsaufnahme nach Deutschland kamen, aus diesen nördlichen Provinzen. Als die griechische Tabakindustrie durch das Vordringen des amerikanischen Virginia-Tabaks nahezu vollständig zum Erliegen kam, hatte das für die ökonomische Situation in den „Armenhäusern“ der nordgriechischen Peripherie katastrophale Folgen. Vielen Familien blieb als letzter Ausweg nur die Migration. Wie auch in der Familie von Soula Palatianou.
So war unser Leben. Sehr arm, aber in der Familie ganz liebevoll. Im Sommer habe ich auf den Tabakfeldern gearbeitet. Im Winter habe ich das Schneidern gelernt. So war mein Leben, bis ich 21 Jahre alt war. Ich wollte weg von dem Dorf. Ich wollte weg von dieser Arbeit. Damals kam eine Bekannte ins Dorf, meine spätere Schwiegermutter. Sie lebte schon in Deutschland. Sie hat mich gesehen, und hat gesagt: Ach, das ist ein schönes Mädchen, es wäre gut, um ihre Hand anzuhalten. Ich kannte meinen späteren Mann überhaupt nicht. Man sagte mir einfach: Dann brauchst nicht mehr in den Tabak, dann hast du ein besseres Leben! So wurden wir von einem auf den andern Tag verlobt. So ging das damals, die Liebe kam mit der Zeit. Ein Jahr nach der Verlobung haben wir geheiratet, und er nahm mich nach Deutschland mit.
Migrantinnen in der Mehrheit
Soula ist die Vertreterin einer ganzen Generation griechischer Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter, die zwischen 1960 und 1973 nach Deutschland kamen. Spätestens, als die Bundesrepublik Spaniens Wunsch nach einem Anwerbeabkommen stattgibt, sieht man sich von Seiten des Auswärtigen Amtes und des Bundeswirtschaftsministeriums außerstande, dem griechischen Drängen nach einer Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes noch länger standzuhalten: Am 29. März 1960 wird das Deutsch-Spanische und am 30. März das Deutsch-Griechische Anwerbeabkommen unterzeichnet. In Athen wird die Germanikin Epitropin, die Deutsche Kommission Griechenlands eingerichtet. Die Außenstelle der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg soll im Auftrag der deutschen Unternehmen geeignete Arbeitskräfte rekrutieren, die berufliche und gesundheitliche Eignung der Bewerber feststellen und die Reise nach Deutschland organisieren. Anfang 1961 nimmt die so genannte „Außenstelle“ in Thessaloniki ihre Arbeit auf, bald schon werden hier aber wesentlich mehr Kräfte abgefertigt als von Athen/Piräus. An nur einem einzigen Tag stellen sich in Saloniki bis zu 6.000 Personen vor. Es sind die gesundheitlichen Eignungsprüfungen und die bürokratischen Hürden der deutschen Kommissionen, die vor den Augen der Migranten schier unüberwindliche Hindernisse aufrichten. Ein Teil der Bewerber darf direkt vor Ort den Vertrag unterzeichnen. Zeigt das Röntgenbild aber Lungentuberkulose oder einen Leistenbruch, so wird der Bewerber abgelehnt. Bekommen die Anwärter die „Prassini Karta“ (die „Grüne Karte“), dann dürfen sie passieren, und die legendäre Fähre Kolokotronis setzt sie von Piräus aus über in ein anderes Leben. Auch im Sonderzug Thessaloniki – München wird für viele von ihnen der Grenzübertritt zur „Weichenstellung“ fürs Leben. Wie für Soula Palatianou:
Mein Traum war es zu emigrieren. Ich wollte von der Landwirtschaft weg! Ich hatte immer nur im Kopf, eines Tages werde ich gehen, emigrieren und in einer Firma arbeiten. Mit vielen Menschen, nicht immer nur alleine.
In Thrakien und Mazedonien gab es kaum eine Familie, die nicht von dieser Migration betroffen war. Ein regelrechtes „Migrationsfieber“ brach aus, ganze Dörfer entvölkerten sich. Oftmals herrscht das Bild des männlichen Gastarbeiters vor. Doch bedarf dieses Klischee einer Korrektur: Bei der Deutschen Kommission in Thessaloniki, bei der deutsche Firmen Arbeitskräfte rekrutierten, bezogen sich von Anfang an viele der Anfragen auf Frauen. Im Mai 1961 waren es 58 % – ein Rekord in der gesamten Geschichte der organisierten Anwerbung. Hier in Thessaloniki wurde auch die Firma Johann Wilhelm Scheidt vorstellig, um das Personal für ihre Kammgarnspinnerei in Essen Kettwig anzuwerben. Man erwartete sich von handarbeitserprobten Frauen wie Soula Palatianou ein besonderes „Fingerspitzengefühl“, um sie als Spulerin oder Ringspinnerin einzusetzen.
Die Deutschlandbilder der griechischen Arbeitsmigrant*innen setzten sich aus unterschiedlichen Fermenten zusammen: aus persönlichen Erinnerungen über Greultaten der Deutschen während der Besatzungszeit 1941-44, die sie hier „I Katochi“ nennen. Aber ebenso aus idealisierenden Bildern vom „Wunder“ der deutschen Wirtschaft, wie es in der heimischen Kino-Wochenschau projiziert wurde: Die Deutsche Mark strahlte große Faszination aus, man spürte, dort, in „Europa“, ging etwas vor sich, und man könnte Anteil daran haben. Gleichzeitig war es auch ein Abenteuer, die Heimat zum ersten Mal zu verlassen. Die Hoffnungen auf ein besseres Leben waren groß, ebenso wie die Ängste vor dem Unbekannten, erinnert sich Soula Palatianou:
So schön war es am Anfang nicht in Deutschland. Es war ein schwerer Start. Wir wohnten in nur zwei Zimmern, gemeinsam mit den Schwiegereltern. Auch mit der Sprache hatte ich Probleme. All das machte mich traurig und krank.
Soula Palatianou möchte sich im Ruhrgebiet als Schneiderin selbstständig machen. Aber nach ihrer Ankunft ist das noch nicht möglich. So arbeitet sie zunächst für ein halbes Jahr in der Fabrik.
Ich wollte arbeiten, ich war gewohnt zu arbeiten, vor der Arbeit hatte ich keine Angst. Ich war so fleißig. Ich war immer schneller als die anderen. Genau wie im Dorf, so auch später in der Fabrik. Ich habe viele Überstunden gemacht, in sechs Monaten kamen zwei Monate Überstunden zusammen. Und der Aufpasser sagte zu mir: Soula, du musst ein bisschen langsamer machen, die anderen kommen nicht mit.
Zum magic moment zwischen Frauen und Männern aus Griechenland und Deutschland kam es nur selten. Das Volkslied in Griechenland warnte die Söhne seines Volkes eindringlich, sich in der „schwarzen Fremde“ nur nicht auf eine Frau einzulassen. Hätte ihn die fremde Frau erst einmal in ihre Netze verstrickt, wäre er für seine Heimat verloren. So blieben die meisten Griechinnen und Griechen unter sich und warben um einander. So entspannen sich im Ruhrgebiet unzählige Liebesgeschichten. Soula wurde schwanger, und sie bekam mit ihrem Mann Ioannis ihr erstes Kind, Dakis.
Trennungsgeschichten
Wie viele der damaligen Gastarbeiterinnen will sie sich für einige Jahre aufs Geldverdienen konzentrieren, so schickt sie ihren erstgeborenen Sohn nach Griechenland zu den Großeltern. Es war durchaus üblich, dass so genannte „Gastarbeiterkinder“ bei ihren Großeltern in Griechenland aufwachsen.
Um die Eltern, die zum Arbeiten in Deutschland sind, an der Entwicklung ihrer Kinder Anteil nehmen zu lassen, ließen Großmütter damals die Hände der Enkel und Enkelinnen auf Papier aufmalen. Und wenn die Mädchen die Sehnsucht nach ihrer Mutter überkam, dann gingen sie zu ihrem Kleiderschrank und atmeten den Duft ihrer Kleider ein. Häufig dauerten diese Trennungsgeschichten zwischen Eltern und Kindern über zehn Jahre. Soula hält es nicht so lange aus. Als die Fabrik schließt, holt sie Dakis wieder zu sich nach Essen Kettwig zurück. Und sie beginnt wieder zu nähen.
Ich fand eine kleine Näh-Tätigkeit bei einem Änderungsschneider, die ich daheim erledigen konnte.
Zur Zeit der Anwerbung der Gastarbeiter ist der Zenit der Industriearbeit paradoxerweise bereits überschritten. Die Struktur der Arbeitswelt hat sich seit der Mitte der Siebziger Jahre umfassend transformiert. Die Ära des blue collar-worker ist vorbei, Fließbandarbeit und Massenarbeit geraten in die Krise. Zahlreiche Griechen in Essen Kettwig machen sich in dieser Umbruchphase – die für viele von ihnen zugleich eine Phase der Niederlassung ist -, selbstständig, zunächst mit einfachsten Mitteln. Sie eröffnen Tavernen oder Schneidereien. Zunächst kommen Soulas Aufträge über eine Freundin. Dann bekommt sie selbst eine Anstellung in der Schneiderei. Zwei Jahre arbeitet sie hier und lernt das Schneiderhandwerk noch einmal von Grund auf.
Dabei wuchs in mir immer mehr der Wunsch, mich auf diesem Gebiet selbstständig zu machen. Es war sehr schwer, geeignete Räumlichkeiten zu finden, tatsächlich tat sich dann etwas auf. Mein Mann Ioannis ist handwerklich sehr begabt und hat meinen Laden ganz alleine eingerichtet. Er selbst arbeitete in der Wechselschicht bei Axel Springer und druckte dort die Bildzeitung.
Fünf Jahre arbeitet Soula nun als selbstständige Schneiderin. Doch als sie mit dem zweiten Kind schwanger wird, wird es selbst für die unerschrockene Frau immer schwieriger, ihr Leben zu meistern.
Ich war schwanger mit unserem zweiten Kind Maria. Dennoch musste auch der Betrieb meiner Änderungschneiderei weiter laufen. Ich hatte keine Hilfe beim Nähen, ich musste alles alleine machen. Selbst mit dem hochschwangeren Bauch kniete ich zu den Anproben auf dem Boden. Die Kunden liebten mich, und ich wollte niemanden enttäuschen. Aber das war einfach zu viel für mich.
Nur eine Wochen nach der Geburt ihrer Tochter war Soula Palatianou schon wieder an der Arbeit. Sie nimmt das Baby mit in die Schneiderei. Doch Maria will versorgt werden, und so wird es immer schwieriger, das Leben als Geschäftsfrau und Mutter zu vereinbaren. Am Ende schlagen die Schwierigkeiten in echte Verzweiflung um.
Einmal kam eine Kundin. Und ich hatte Maria im Arm, und das Kind weinte. Und ich weinte auch, ich war einfach total überfordert. Und da sagte die Frau: Wenn Sie wollen, ich kann Ihnen helfen. Ich kann das Kind mitnehmen. Ich fragte nur: Wo wohnen sie denn? Sie sagte da und da: Ich hab einen Wagen und ich nehme sie mit. Und dann hab ich ihr Maria einfach mitgegeben! Heute klingt es unglaublich! Später war ich mit meinem Mann dort, sie hatte ein schönes Haus, sie war Fotografin. Das hat sie dann ein paar Monate lang so gemacht. Hat sogar Sachen für Maria gestrickt. Für mich war das ein Gottesgeschenk. Er hat auf einen Schlag alle Sorgen von mir genommen.
Griechische Infrastruktur
Die Wanderungsbewegungen seit dem Zweiten Weltkrieg, die im Kontext der Neuordnung Europas, dem Kalten Krieg und dem „Wirtschaftswunder“ in Westdeutschland standen, haben unsere Stadtgesellschaften grundlegend verändert. Migration ist nicht Randphänomen der Verstädterung, sondern vielmehr einer ihrer eigentlichen Motoren. In Essen Kettwig wird die Migration aus Griechenland im Stadtbild sichtbar. Von der Migration zur „Einwanderung“ ist es ein weiter Weg. Es bedeutet Anspannung, sich in einem fremdsprachlichen Raum zu bewegen. Es kostet Anstrengung, neben und nach der Arbeit eine Sprache zu lernen. In der Begegnung mit den Einheimischen ist da immer ein Gefälle: Wo der eine stottert, um jedes Wort ringt, da zeigt der Andere sein Heimrecht schon allein, indem er die Sprache beherrscht. Aber allmählich gewöhnt man sich ein. Die Gewöhnung stiftet den Zusammenhang, macht aus den Gegenständen, die in der Umwelt lagern, einen Orientierungsraum: Einem Blinden gleich, der lernt in der vertrauten Umgebung ohne Stock zu gehen – und ohne Zögern. Eine Erfahrung, die mit der Zeit auch Soula Palatianou machte: Sie verstand immer mehr. Sie wurde mutiger. Machte Ausflüge in die Umgebung. Der vielleicht wichtigste Treffpunkt – und zugleich einer der zentralen Erinnerungsorte der Griechen von Kettwig – war die Ruhr. Hier am „Ententeich“, wie der Kettwiger Mühlengraben genannt wurde, verabredete man sich im Sonntagsstaat zur „Volta“. Hier machte man Picknick, spielte auf griechische Art mit Murmeln, las Zeitung oder schaute sich die Passanten an, die von Kettwig Vor der Brücke herüberkamen. Jedenfalls, wenn man bei all der Arbeit dafür die Muße fand.
Damals hatten wir noch nicht so viel Kontakt zu Deutschen. Was uns aber immer besonders gefiel war die Weihnachtszeit. Alles war so schön geschmückt, die Bäume und die Weihnachtsmärkte mit den vielen Lichtern waren wunderschön und uns nicht bekannt aus unserer Heimat. Auch meine Eltern kamen uns meistens zu dieser Zeit besuchen. Und der Sonntag war ein besonderer Tag. Da haben wir uns schön angezogen. Schöne Kleidung hat mir immer gefallen, schon seit ich ein kleines Mädchen war, und dann durch meine Arbeit als Schneiderin.
Die Religion der ersten Migrantengeneration ist eine „delokalisierte Religion“ – eine Religion, die in der Fremde wiedererrichtet wird. Die Kirchendiener der Orthodoxen sind anfangs mobile Einheiten, die im Bedarfsfall einer Hochzeit, einer Taufe oder einer Beerdigung zum Einsatz kommen. Die „sieben Sachen“ für die Liturgie haben sie im Auto, zelebriert wird überall, im Wohnheim, im Park, in gemieteten Sälen oder den Schwesternkirchen. Man improvisiert viel: baut Ikonostasen aus Kalenderblättern, der Waschzuber wird zum Taufbecken umfunktioniert.
Sonntags haben wir regelmäßig in Düsseldorf den Gottesdienst besucht. Auch da waren immer viele griechische Familien. Aber ansonsten gab es für uns nur Arbeit, Arbeit, Arbeit.
Das Projekt der Gastarbeiter:innen sieht vor, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Geld zu verdienen. Dieser Wunsch kollidierte bei Soula Palatianou mit dem eigenen Verständnis von Mutterschaft. In ihrer Geschichte ist diese Doppelbelastung spürbar. Und ihre Erzählung belegt, wie wichtig auch Zivilcourage war, um ihre Kinder in Deutschland „durchzubringen“.
Patatadiko in Essen Kettwig
Mit zwei Kindern konnte ich nicht länger in der Schneiderei arbeiten, während mein Mann seine Schichten fuhr. Eine Freundin hatte eine Pommesbude. Sie hat gesagt: Soula, wir gehen nach Griechenland zurück, und wir wollen verkaufen. Das ‚Patatadiko‘ haben wir dann übernommen. Um das Geschäft aufbauen zu können – wir hatten noch keine Unterstützung – habe ich dann auch Maria zu den Großeltern nach Griechenland geschickt. Das war sehr schwierig für mich, ohne meine Tochter Maria zu sein. Weihnachten hab ich sie schon wieder zurückgeholt. Da hatten wir einen zusätzlichen Mitarbeiter für die Pommesbude gefunden, und ich konnte bei den Kindern bleiben.
Mittlerweile gab es in Essen Kettwig eine gut vernetzte und weit verzweigte griechische Subkultur. Neben griechischen Ärzten und Anwälten fanden sich hier in den 1970er und 1980er Jahren auch griechische Lebensmittelgeschäfte, Schneider, Schuster, Versicherungen, Reisebüro, Kulturvereine, Cafeterias. Man besucht das „Kafenion“, versorgt sich in einer eigenen Videothek mit griechischen Filmen. Im Hexenberg-Kino gab es in regelmäßigen Sonntagsmatineen die Möglichkeit, griechische Heimatfilme zu sehen. Hier war es sogar erlaubt, die griechischen Sporia – Sonnenblumenkerne – zu knacken und zu kauen. So bot das Kino Unterhaltung und ein Gemeinschaftserlebnis der besonderen Art. Im Molin Rouge in der Altstadt, später in Akropolis umbenannt, konnte man abends seinen Ouzo trinken, oder deutsches Bier, und Karten spielen. Hier mussten Kinder ihre Väter abholen, dass sie nicht den ganzen Lohn verspielten. Hier steht auch eine Musikbox. „Nostalgia, Nostalgia, Nostalgia“ scheint in den frühen Jahren der Migration das alles beherrschende Motiv zu sein und Musik das Medium par excellence, ihr Ausdruck zu verleihen. Stelios Kazantzidis war die große Stimme der sehnsuchtsgetränkten griechischen Gastarbeiterballade: „Der Zug fährt ab und pfeift ständig, wie ein Klagelied, Trostlos beklage ich mein Schicksal, Warum kann meine Heimat ihre Kinder nicht ernähren, Sie haben uns verkauft, Hier, wo wir aus dem Leben ausgesperrt sind, Ich fühle eine schwere Müdigkeit in meinem Körper und im Herzen …“
Ich hatte aber immer auch Heimweh nach Griechenland. Wir haben auch jedes Jahr mit den Kindern Urlaub in Griechenland gemacht. 5-6 Wochen. Wir haben das immer sehr genossen mit unseren Eltern.
Soula Palatianou hatte Sehnsucht nach Griechenland. Ins Kettwiger Nachtleben zog es sie weniger. Für Unterhaltung dieser Art hatte sie keine Zeit.
Ich hab meinen Mann abgelöst [im Imbiss], damit er zu Hause Pause machen kann. Währenddessen habe ich immer mit den Kindern telefoniert, um Kontakt zu halten und zu hören, was sie machen. Einmal hat mein Sohn Dimokratis dann am Telefon gesagt, die kleine Maria hätte einen Pfennig in den Mund gesteckt und verschluckt. Jetzt könnte sie nicht mehr sprechen. Ich hab gesagt, er soll sofort seinen Vater wach machen. Mein Mann kam dann in den Laden, und ich bin schnell nach Hause. Ich habe Maria genommen, und wir sind zum Doktor Remi. Der hat sie gesehen und meinte, vielleicht sei sie nur erkältet. Ich hab gesagt, nein, sie hat eine Münze verschluckt! Geröntgt hat der Arzt sie trotzdem nicht. Er meinte, wir sollen sie zwei Tage beobachten, sonst sollen wir wiederkommen. Ich war dann einen Tag mit ihr zu Hause, hab ihr Essen gegeben, aber sie konnte es gar nicht herunter schlucke!. Ich hatte wirklich ein sehr ungutes Gefühl. Also bin ich wieder zu dem Arzt, dann hat er sie endlich geröntgt. Und gesehen, der Pfennig steckte quer in ihrem Hals! Da sagte er, das Kind muss sofort ins Krankenhaus. Und die Ärztin im Krankenhaus hat den Pfennig rausgeholt, ohne Operation, Gott sei Dank!
Später ging Maria in den Kindergarten, dann wurde es einfacher. Dann haben wir auch eine neue Wohnung bekommen, direkt neben dem Imbiss. Maria konnte in der Pommesbude ihre Schulaufgaben machen, so hatte ich sie in der Nähe. In der Pommesbude gab es eine Ecke mit Spielautomaten. Da kamen auch die Jugendlichen von der Schule, und Maria lernte lauter Worte, die sie eigentlich nicht lernen sollte. Ich war damals Anfang 30, und wurde zur Mutter für alle Kinder und Jugendlichen in Kettwig. Sie kamen in den Laden und riefen: ‚Mutter, gib mir eine Pommes, gib mir ein Schaschlik Spieß.‘ Der Laden lief gut. Von dem Geld konnten wir auch das alte Haus in Griechenland, mein Elternhaus, niederreißen und ein neues bauen, und ein weiteres Grundstück kaufen. Wir haben mit nichts angefangen, und dann doch etwas aufgebaut.
Anwesenheit und Abwesenheit
Im Familienalbum der Familie Palatianou finden sich Bilder der Anwesenheit und der Abwesenheit. Anwesend im Ruhrgebiet war die Familie, die Soula und ihr Mann gegründet hatten. Abwesend waren dagegen die Familien, denen sie selbst entstammten, die in Nordgriechenland geblieben waren. Wie Soula von der Selbstständigkeit träumte, so auch davon, ihre Familie über die Generationen eines Tages wieder zu vereinen.
Wir dachten immer, wir gehen nach Griechenland zurück. Wir haben nicht gedacht, dass wir hier in Essen Kettwig bleiben würden. Ich wollte immer meinen Eltern helfen, wenn sie alt sind. Wir hatten eine sehr gute Beziehung. Ich habe meinen Vater so lieb und er hat mich auch so lieb. Eines Tages wurde mein Vater plötzlich krank, 1989, Krebs. Das war ein großer Schlag für mich, für uns alle. Ich bin direkt nach Griechenland aufgebrochen, doch ich konnte es nicht ändern: innerhalb von nur einem Monat ist er gestorben. Damals hab ich gedacht, so ist das Leben, nur ein Monat, und alles kann vorbei sein. Danach war ich richtig angeschlagen, erschöpft, ängstlich – der Schock hat mich krank gemacht.
Der Tod des Vaters traf Soula Palatianou schwer. Doch in der Folge erlebte sie eine Art Erweckung – oder Bekehrung. War sie auch ihr Leben lang jeden Sonntag mit den Kindern in den orthodoxen Gottesdienst in Düsseldorf gegangen, hatte sie doch nie die Bibel gelesen, hatte nicht wirklich nach Gott „gesucht“. Das änderte sich nun:
Dann kam ich nach Deutschland zurück, und noch immer war ich unendlich traurig. Damals, 1993, hat Maria im Garten eine kleine Katze gefunden. Und wir hatten mit unserer deutschen Nachbarin Probleme deswegen. Wir hatten richtigen Streit, sie hat die Tür im Hausflur geknallt und meinen Sohn angeschrien. Das hat bei mir eine richtige psychische Krise ausgelöst.
Bis dann ein frommer Mann ins Haus kam, der Dr. Weiß von der evangelisch-freikirchlichen Gemeinde, der wollte uns versöhnen. Unsere Nachbarin ging zu einer Seniorenstunde der Gemeinde. Ich hatte Kuchen gemacht, damit wir uns zusammensetzen und reden. Und Dr. Weiß hat dann angefangen mit uns zu beten. Da hat Gott irgendwie mein Herz aufgemacht. Ich wollte dann jeden Sonntag in die evangelisch-freikirchliche Gemeinde gehen und mehr von Gottes Wort hören. Maria nahm ich mit. Für mich ist der Glaube das größte Geschenk, das ich in Deutschland schließlich gefunden habe. Das Kostbarste. Etwas, dessen Wert sich gar nicht bemessen lässt.
Heute hat die Mehrheit der Griechen ihre Zelte in Essen Kettwig abgebrochen: Sie sind heute die Besitzer jener Bauten rund um den alten Dorfkern, Altersvorsorge in Beton gegossen. Andere wie Soula haben den Traum von der Rückkehr nie aufgegeben, aber immer weiter aufgeschoben. Im Alter können sie nicht mehr auf die Zukunft wetten, die Rückkehroption entpuppt sich als eine Illusion. Soula Palatianou ist heute mehrfache Oma. Ihr Sohn Takis hat eine Familie gegründet, ebenso wir ihre Tochter. Maria hat an der Folkwang Universität in Essen Design studiert und ihren Abschluss mit einem Buchprojekt über Begegnungsorte von Griechen und Deutschen gemacht, wie die Pommesbude der Familie eine war.1 Heute haben Soula Palatianou und ihr Mann die Pommesbude abgegeben. Soula macht gelegentlich noch Schneiderarbeiten von zu Hause aus. Und sie liest immer noch jeden Tag in der Bibel, verfasst sogar selbst kleine Predigten, die sie in Form von Sprachnachrichten an ihre Freunde schickt. Für diese spirituelle Berufung lässt die ehemalige Gastarbeiterin Soula Palatianou sogar mal ihre Arbeit liegen.
Dr. Manuel Gogos/ Geistige Gastarbeit
- Vgl. Palatianou, Maria, Wurstake – typisch griechisch – typisch deutsch, Diplomarbeit 2009, Studiengang Kommunikationsdesign Folkwang Universität der Künste.
Imbiss: Hauptstraße 44, 45219 Essen.
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