Rebecca Hanf engagierte sich in Witten jahrzehntelang für die Stadtgesellschaft. Am Ende ihres Lebens wurde sie Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.
Paris, 2. August 1946: Der Philosoph und Schriftsteller Salomo Friedländer (1871-1946), bekannt unter dem Pseudonym „Mynona“ (rückwärts gelesen „anonym“), schrieb kurz vor seinem Tod an Dr. E. Löwenstein: „Besten Dank für Ihren Brief vom 29. VII. Er mutet mich an wie eine Ueberbrückung der schauerlichen Kluft des Verschwindens der verehrungswürdigen Frau Hanf, deren letzte Sorge Kant war. – Mein fast 30jähriger mündlicher und schriftlicher Verkehr mit Ernst Marcus ist die größte Begnadung meines Lebens, und ich verdanke Marcus auch die Bekanntschaft mit Frau Hanf, auf deren Urteil er immer großen Wert legte …“.
Rebecca Hanf, geboren am 20. Februar 1863 in Iserlohn, stammte aus der seit 1648 in Westfalen ansässigen jüdischen Familie Löwenstein-Porta. Im Alter von 22 Jahren heiratete sie den Wittener Bankier Moritz Hanf und zog in das Haus ihrer Schwiegereltern nach Witten bis zur Fertigstellung der 1903 im Parkweg 14 (ehemals Johannisweg 12) erbauten „Villa Hanf“. Als Mutter von sechs Kindern (zwei weitere Kinder starben im Säuglingsalter) widmete sie sich zunächst der Haus- und Familienarbeit. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts engagierte sich Rebecca Hanf in Witten als Kunst- und Kulturförderin, als bürgerliche Frauenrechtlerin und in der ehrenamtlichen Fürsorgearbeit. Sie war beispielsweise Mitinitiatorin und Mitarbeiterin der 1906 in der Stadt gegründeten Rechtsschutzstelle für Frauen und Mädchen und der Berufsberatungsstelle des überkonfessionellen und bürgerlichen Vereins Frauenwohl in Witten. Sie gründete und leitete den Fachverein der Schneiderinnen und wurde beauftragte Vertreterin dieser Berufsgruppe in der Handwerkskammer Dortmund zu einer Zeit, in der es noch kein Frauenwahlrecht gab. Als langjährige Vorsitzende des 1865 gegründeten Jüdischen Frauenvereins und 2. Vorsitzende des 1902 gegründeten Vereins Frauenwohl leistete sie während des Ersten Weltkriegs aktive Nachbarschaftshilfe. Rebecca Hanf schrieb auch gelegentlich Artikel für das Wittener Tageblatt, das sie selbst als „Käseblatt“ bezeichnete, und für regionale und überregionale Mitteilungsblätter der bürgerlichen Frauenbewegung. Die Musikliebhaberin – sie spielte Klavier – und an Literatur und Philosophie hoch Interessierte lud regelmäßig zu Lesestunden und Musikabenden in die Villa im Parkweg ein.
1904 lernte Rebecca Hanf den in Essen lebenden Juristen und Philosophen Ernst Marcus kennen, der sich für einen „Wiederentdecker und restlosen Versteher Kants“ hielt. Mit Bertha Marcus geborene Auerbach, die u. a. im Vorstand des Vereins Frauenwohl in Essen tätig und mit Ernst Marcus verheiratet war, diskutierte Rebecca Hanf frauenrechtliche Fragen. Mit ihm verband sie eine innige intellektuelle Freundschaft, die in Korrespondenzen und Gesprächen über die Ideen Immanuel Kants und in den zahlreichen Publikationen von Ernst Marcus, die sie redigierte und für die sie öffentlich warb, zum Ausdruck kam. Kant und die Ideen der Aufklärung erfuhren um 1900 eine intensive Rezeption auf der Suche nach neuen Bezugspunkten für Individuen und Gesellschaftsordnungen. Ihren Artikel Aus den Tiefen des Erkennens, erschienen in der Frankfurter Zeitung vom 6. Juni 1926, leitete Rebecca Hanf mit den Sätzen ein: „Zweifellos herrscht heute ein starkes Bedürfnis nach geistiger Führung. Man sucht bei Chinesen, Indern, Griechen nach Weisheit. Warum nicht bei dem großen deutschen Denker, der uns zeitlich und sprachlich so viel näher steht, dessen Name auch im Weltruhm strahlt – bei Kant?“
Bis Ende der 1930er Jahre wurde Kants Werk auch von Witten aus in Briefwechseln mit namhaften Schriftstellern und Philosophen im In- und Ausland diskutiert. Salomo Friedländer beispielsweise zählte zu Rebecca Hanfs regelmäßigen Korrespondenzpartnern. Sie unterstützte ihn finanziell in seinem Exil in Frankreich, wohin er unter dem Verfolgungsdruck der Nationalsozialisten geflohen war.
In der so genannten Reichskristallnacht vom 9. auf den 10. November 1938 konnten sich die Eheleute Hanf vor den brutalen Angriffen der Nazis im Keller ihres Hauses verstecken. Zwei Monate später gelang ihnen die Flucht zu Verwandten in die Niederlande, wo Moritz Hanf im Mai 1943 in Hilversum verstarb. Wenige Wochen vor seinem Tod äußert sich Rebecca Hanf in einem Brief an Friedländer zu den Ereignissen der Reichspogromnacht: „… Haus und Hausrat war unbewohnbar und unbenutzbar gemacht worden, wir selber, wir beiden Alten, körperlich verschont geblieben, aber die Nerven! Und dem Sohn hat man arg mitgespielt. Ich hatte schon geglaubt, dass ich, wenn wir erst ausser Landes wären, unsere Erlebnisse erzählen könnte, etwa schriftlich, aber auch dazu reichts noch nicht. Stellen Sie sich nur vor, dass ich mir den Höllenlärm der Nacht überhaupt nicht mehr zurückrufen konnte, ich hatte mir eben keinen Begriff davon machen können, und so ist es auch heute nur der Anblick des verwüsteten Hauses, den ich zurückrufen kann – das Ohr hat den lebendigen Eindruck nicht aufgenommen. – Wie recht taten doch diejenigen, die [vor] dem Vaterland den Rücken kehrten! Wir glaubten, man würde uns Alten die 6 Bretter und das Plätzchen in der Erde gönnen! Sogar den nicht mehr in Gebrauch befindlichen Friedhof, auf dem die Eltern meines Mannes ruhen, hat man verwüstet …“
Am 10. Juni 1943 wurde Rebecca Hanf im Alter von 80 Jahren in das Sammellager Westerbork verschleppt. Aus der dortigen Krankenbaracke bat sie per Postkarten und gelegentlichen Briefen ihre Verwandtschaft um die Zusendung von Büchern Kants und Marcus, um sich und anderen Frauen „die Nerven zu stärken.“ Robert Marcus, der Schwiegersohn von Rebecca Hanf, schrieb am 2. Oktober 1976 aus Herzlia, Israel, an das Leo-Baeck-Institute in New York: „… Details bzgl. Frau Rebecca Hanf, die vom Archiv erbeten wurden, wurden mir von deren Sohn, meinem Schwager, übersandt … Man mag vielleicht hinzufügen, dass man Frau Hanf gestattete, ihr Handexemplar von Kants Kritik der reinen Vernunft mit in die gas-chambers zu nehmen …“
Dies ist die „schauerliche Kluft des Verschwindens der verehrungswürdigen Frau Hanf …“, die nach dem Ersten Weltkrieg gehofft hatte, die Zeit des Völkermordes könne überwunden werden: Sie wurde am 25. Januar 1944 im Alter von 80 Jahren von Westerbork in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort nach ihrer Ankunft am 27. Januar zusammen mit 688 Deportierten in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau ermordet.
Dr. Martina Kliner-Fruck/ Stadtarchiv Witten
Orte:Rebecca-Hanf-Straße, 58454 Witten
Parkweg 14, 58452 Witten
Stadtarchiv Witten, Ruhrstraße 69, 58452 Witten, stadtarchiv@stadt-witten.de
Martina Kliner-Fruck, Villa Hanf: „Leise hoffe ich, daß meine philosophischen Dinge erhalten bleiben ...“ Nachruf auf Rebecca Hanf, in: Wittener Frauengeschichte(n): Dokumentation einer Stadtrundfahrt, 2. verb. Aufl., Witten 1992, S. 36-38. (erhältlich über das Stadtarchiv Witten)
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