Pietertje Hinze / 1936

Arbeit und Familie in der Binnenschifffahrt

Die Binnenwasserstraßen hatten einen entscheidenden Anteil an der wirtschaftlichen Entwicklung des Ruhrgebiets. Immer mehr Massengüter – Erze, Kohle, Baustoffe, Getreide – mussten preiswert transportiert werden. Als erster Westdeutscher Kanal nahm 1899 der Dortmund–Ems–Kanal seinen Betrieb auf. Er verband von nun an das östliche Ruhrgebiet mit den Nordseehäfen. Während 1999 sein 100-jähriges Jubiläum allerorten mit Hafenfesten gefeiert wurde, erinnerte die Frauengeschichtswerkstatt der Volkshochschule Datteln an das Leben und Arbeiten auf den Kanalschiffen. In Datteln, dem größten Kanalknotenpunkt der Welt, lag dieses Interesse auf der Hand. Literatur zum Thema gab es nicht. Und so begann die Frauengeschichtswerkstatt ihre kritische Revision mythendurchtränkter Bilder vom wild-romantischen Leben auf dem Wasser mit einer Befragung von Kanalschifferfrauen. Sie erzählten von ihren Lebensbedingungen und –gewohnheiten zu Wasser und zu Lande. Durch das Interesse an ihrer mobilen Lebensform angeregt, schrieben einige Schifferfrauen selbst Erinnerungen nieder, suchten nach Fotografien und belebten alte Kontakte.

Die meisten Frauen in der Binnenschifffahrt stammen aus Schifferfamilien, so auch Pietertje Hinze. Großvater, Onkel, Vater waren niederländische Binnenschiffer. Die Mutter, ausgebildete Hebamme, machte 1961 und 62 noch Patente und befuhr selber den Rhein und westdeutsche Kanäle. Ihre Kindheit verlebte Pietertje Hinze mit der älteren Schwester bei den Großeltern. Als die Eltern im Juni 1945 nach dem Krieg wieder aufs Schiff  gingen, nahmen sie die beiden Töchter mit an Bord. Nach Internat und Haushaltsschule wurde Pietertje 1954 „Schiffsjunge“ auf dem elterlichen Schiff. Der Vater war bei einer deutschen Reederei angestellt, so arbeitete auch sie als Angestellte mit Steuerkarte und Schifferdienstbuch, jedoch ohne Ausbildung. Als 1947 und 1948 noch zwei Geschwister geboren wurden, war sie Kindermädchen und Schiffsjunge gleichermaßen. Die Eltern fuhren in dieser Zeit Kohle vom Hafen Julia in Wanne-Eickel bis Salzgitter.

In Wanne-Eickel lernte Pietertje Hinze dann auch ihren Mann kennen – einen Schiffer. Gegen den Willen der Eltern heirateten sie in Duisburg: Der Vater wollte nach dem Krieg keinen Deutschen als Schwiegersohn. Zusammen mit ihrem Mann befuhr sie nun auf einem Reedereischiff den Rhein. Durch Zufall hörten sie im Radio von einer Bestimmung, dass niederländischen Frauen, die einen Deutschen heirateten, die niederländische Staatsbürgerschaft entzogen wurde. Um dem Status der Staatenlosigkeit zu entgehen, nahm sie rückwirkend mit ihrer Hochzeit am 6. März 1957 die deutsche Staatsbürgerschaft an.

Ihre Kinder wurden entlang der Wasserstraßen geboren: der erste Sohn kam in Mülheim zur Welt, der zweite in Duisburg und der dritte in Dordrecht. Wenn die Geburt bevorstand, ging sie an Land in eine Klinik. Das Kind wurde noch im Krankenhaus getauft, Vater holte den neuen Erdenbürger mit Mutter an Bord, und es ging weiter. Da Kinder nur unter Aufsicht auf dem Schiff mitfahren durften, konnte Pietertje Hinze nicht mehr als Angestellte auf dem Schiff arbeiten, sondern fuhr unter dem offiziellen Status „Hausfrau und Mutter“ mit, was nicht bedeutete, dass sich an ihrer Arbeit auf dem Schiff etwas änderte. Hatten sie im Hafen Kohle geladen, so drang der feine Kohlestaub durch alle Ritzen, besonders beim Be- und Endladen. Durchschnittlich einmal pro Monat wurde die komplette Wohnung abgewaschen, Wände, Decken, Möbel von innen und außen. Die Fußböden aus Linoleum wurden blank gebohnert. Und alle Knöpfe, Griffe, die Schiffsglocke und die Verkleidungen der Fenster aus Messing wurden auf Hochglanz poliert. Schifferfrauen, die noch auf Dampfschiffen fuhren, berichteten von dem ständigen Ruß und Dreck aus der Maschine, gegen die nicht anzukommen war.

Hinzes richteten sich ihr Leben mit drei Jungen an Bord so schön und abwechslungsreich ein wie möglich. Als der erste Sohn schulpflichtig wurde, fühlte er sich im Schifferkinderheim nicht wohl. Herr Hinze suchte eine Arbeit an Land, was mit erheblichen finanziellen Einbußen verbunden war, aber: Getrennt konnten sie sich auf Dauer ein Leben nicht vorstellen. 1966 wurde Herr Hinze Schiffsführer eines „Bunkerbootes“, das die Binnenschiffe mit Dieselkraftstoff, Schmierölen und Ausrüstungsartikeln versorgt. Später übernahm er als Leiter der Niederlassung Datteln den damit verbundenen Schiffausrüstungsbetrieb. Frau Hinze arbeitete dort als Büroangestellte, eine Position, die das Abrechnungswesen bis hin zu zollamtlichen Abwicklungen umfasste. Sie tätigte auch für die Schiffer Bankangelegenheiten, denn wenn diese anlegten, war es meist sehr spät, die Banken weit weg und geschlossen, es gab noch keine Bankautomaten. Bis zur Rente hatte sie diesen vertrauensvollen Posten inne. Die drei Söhne ergriffen Berufe, die nichts mit der Binnenschiffahrt zu tun haben.

Eine gut durchdachte Vorratswirtschaft war an Bord überlebenswichtig, denn Einkaufen stellte sich weit ab von den jeweiligen Stadtzentren bei begrenzten Ladenöffnungszeiten schwierig da. Es wurde viel eingekocht und konserviert, an fast allen Schleusen gab es Lebensmittelgeschäfte, in denen man sich für den täglichen Bedarf eindecken konnte. Frau Hinze besaß schon früh einen Kühlschrank, der mit Petroleum betrieben wurde. Das Radio lief auf Anodenbatterie, später mit 24 Volt-Batterie, in den 1960er Jahren kamen Radar und Funk an Bord. Die „große Wäsche“ wurde an Land erledigt, gleichwohl stand ständig Wäsche auf dem Herd, um schnell ausgewaschen zu werden.

Diskriminierung als Schifferfrau hat Pietertje Hinze nicht erlebt. Allerdings musste sie „Landratten“ immer wieder erklären, warum die Kinder an Bord in einem Käfig spielen mussten. Hinzes wählten eine andere Lösung: Sie gurteten ihre Jungen an einem Seil, das vom Bug zum Heck über das Schiff gespannt war, an. Neuigkeiten wurden von Schiff zu Schiff ausgetauscht, indem man auf beiden Schiffen entgegen der Fahrtrichtung mitlief, so hatte man ein paar Minuten länger für wichtige Informationen. Schifferfrauen hatten durch ihre internationalen, grenzüberschreitenden Kontakte den Sesshaften durchaus etwas voraus. Schon vor der Einführung der Pille in Deutschland hatte es sich 1961 bei ihnen herumgesprochen: Es gibt sie in Basel und sie heißt „Anoflar“.

Das Leben aller Schifferfamilien zeigt strukturelle Übereinstimmungen, so sind die Partner in ihrer Arbeit aufeinander verwiesen, der Arbeitsplatz ist gleichzeitig auch Ort der Versorgung und Erholung. Jede Familie steht vor der Entscheidung, wie sie ihr Leben mit schulpflichtigen Kindern organisiert. Es kann in dieser schwierigen Frage nur individuelle Lösungen geben, Hinzes entschieden sich für den Weg an Land. In der deutschen Binnenschifffahrt gehen die meisten Frauen an Land, sobald die Kinder in den Kindergarten kommen. Im Partikuliergeschäft übernehmen sie dann die Verwaltung des Betriebes. Viele Frauen, die mit einem Schiffer liiert sind, haben heute ebenfalls einen Beruf, den sie ausüben möchten. Mittlerweile gibt es jedoch immer weniger Partikulierunternehmen und viele Schiffe sind umgebaut worden für den Schichtbetrieb, da ist kein Platz mehr an Bord für Familien.

1994 schlossen sich „Frauen in der Binnenschifffahrt“ zu einem Verein zusammen, um in der Öffentlichkeit ihre Anliegen besser positionieren zu können:„Wir sind: mutig, stark, selbstbewusst, problemerfahren, unerschütterlich, kämpferisch, flexibel, stolz. Wir handeln in Verantwortung für das Schiff, die Familie, die Umwelt, das Personal, das Gewerbe“ heißt es in ihrer Selbstdarstellung. Es war ihr Druck, der für die Belange der Binnenschifffahrt sensibilisierte:„Wir klagen über politisches Unverständnis, wirtschaftliche Fehlentscheidungen, europäische Ungerechtigkeiten. Wir brauchen eine Zukunftsperspektive, gleichwertige Stellung in Europa, Unterstützung von Politikern, Verständnis in der Bevölkerung, Fairness in der Transportvergabe.“

Dr. Uta C. Schmidt/ frauen/ruhr/geschichte

Orte:

Doppelschleuse Datteln-Natorp, ‚ÄûBistro am Hafen“
Museumsschiff LWL-Industriemuseum Schiffshebewerk Henrichenburg, Am Hebewerk 2, 45731 Waltrop
Museum der Deutschen Binnenschifffahrt, Apostelstr. 84, 47119 Duisburg

Literatur:

Der Bürgermeister der Stadt Datteln (Hg.), Frauengeschichtswerkstatt der VHS der Stadt Datteln:„Zu Wasser und zu Lande“. Frauenalltag in der Binnenschifffahrt, Datteln 1999.
Leise, Britta, Frauenalltag an Ford eines Binnenschiffes, in: Heimat Dortmund, 1999, 1, S. 9-11.
Wergen, Jutta, Frauen in Fahrberufen. Geschlechterstrukturen in Bewegung, Wiesbaden 2005.

Zitation: Schmidt, Uta C., Pietertje Hinze, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/pietertje-hinze/

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