Einen weiten Weg hat die aus den Sudeten stammende Textilarbeiterin Maria Ansorge im Laufe ihres 75jährigen Lebens zurückgelegt. Aus der Dorfschule kam sie in die Fabrik und von da zur Parteiarbeit. Unermüdlich kämpfte sie für eine gerechtere Welt und für bessere Arbeitsbedingungen. Bis zur Machtübernahme durch die Nationalsozialisten gehörte sie dem Deutschen Reichstag an. Dann wurde sie in Gefängnisse und ins KZ gesteckt, musste aus ihrer schlesischen Heimat flüchten und gelangte nach dem Krieg nach Marl.
In der Dorfschule in Löchau, „einem kleinen Ort, wo die Handweberei daheim war und Gerhard Hauptmann den Stoff zu seinem Drama „die Weber“ geholt hat“, hat die Tochter eines armen Bauarbeiters nach ihren Erzählungen oft den Unterricht versäumt, weil sie bei der Betreuung der Geschwister und im Haushalt mithelfen und durch Feldarbeit Geld verdienen musste. Schmalhans war immer Küchenmeister, schrieb sie später. Wie ihre Mutter wurde sie Handweberin. Als sie heiratete, wusste sie, dass sie mitverdienen musste. Das störte sie nicht, denn durch ihre Fabrikarbeit war sie bereits mit politisch aktiven ArbeiterInnen konfrontiert und vermochte ein reges Interesse am politischen Geschehen zu entwickeln. Was sie störte, war, dass ihr Mann sie nicht zu Gewerkschaftsversammlungen mitnehmen wollte. Er behauptete: „Da seid Ihr [Frauen] zu dumm dazu.“ Sie trennte sich bald von ihm, wurde selbst Gewerkschafts- und SPD-Mitglied (Sozialdemokratische Partei Deutschlands) und unternahm größere Versammlungstouren. Während des Ersten Weltkriegs übernahm sie „freiwillig“ die Leitung des Bäcker- und Fleischerverbandes und gab ebenso „freiwillig“ wieder ab, als die Männer vom Krieg nach Hause kehrten.
Als nach dem Sturz des Kaiserreiches 1918 das Frauenwahlrecht erkämpft war, gehörte sie zu den sozialdemokratischen Frauen, die für ein Reichstagsmandat aufgestellt wurden. Bis 1933 war sie Mitglied des Reichstags und ging „mit ihrem ganzen Wesen in der öffentlichen Arbeit für die arbeitenden Menschen auf“. Ganz offensichtlich waren es ihre „stringente Persönlichkeit“ und ihre Treue zur mehrheitlichen Parteilinie, dass sie die Auseinandersetzungen im Reichstag der Weimarer Republik überstand. In ihren Reden wurde sie nicht müde, immer wieder auf die niedrigen Löhne und schlechten Lebensbedingungen ihrer Landsleute hinzuweisen. Dabei nahm sie kein Blatt vor den Mund, wenn sie zum Beispiel Abgeordnete der Regierungsparteien aufforderte, sich die Elendswohnungen des Waldenburger Reviers einmal vor Ort anzusehen, anstatt immer bloß in den Wohnungen der (wohlhabenden) Landwirte Studien zu treiben.
Als die SPD-Fraktion 1933 geschlossen gegen das Ermächtigungsgesetz stimmte, war Maria Ansorge bereits zum zweiten Male vorübergehend verhaftet. Fortan wurde sie von den Nazis gut überwacht und ab und zu zur Gestapo und zur Kreisleitung der Nationalsozialisten bestellt, wie sie später schrieb. Es ging gegen ihren Gerechtigkeitssinn, dass man sie monatelang einsperrte, ohne ihr Gründe zu nennen: An ihre Familie schrieb sie im Dezember 1933: Wenn ich auch nur etwas getan hätte, könnte ich es verstehen, dass man mich monatelang einsperrt, aber wenn man politisch, noch sonst irgend etwas Strafbares getan hat, da fehlt einem das Verständnis dafür. Die „braunen Jahre“ waren wohl die schwerste Zeit ihres Lebens. Sie lebte überwiegend von Arbeitslosenunterstützung und Fürsorge. Ihre geringen Ersparnisse waren durch die Gestapo beschlagnahmt worden. Ihre letzte Verhaftung erfolgte im Rahmen der „Aktion Gitter“ nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944. Sie wurde ins Frauenkonzentrationslager Ravensbrück verschleppt und bis zum 3. November 1944 eingesperrt. Einem Antrag auf Beschädigtenrente vom 23.11.1948 ist zu entnehmen, dass sie infolge ihres KZ-Aufenthaltes Gesundheitsschäden erlitten hat: „… durch stundenlanges Stehen im Freien mit nacktem Körper und durch schlechte Ernährung“. Ihr einziger leiblicher Sohn ist am 7. Mai 1945, als er bereits auf dem Weg in die Heimat war, von einer Kugel aus sowjetischen Gewehren getroffen worden, die eigentlich einem flüchtenden Offizier der Hitlerarmee gegolten hatte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ihr von den Sowjets das Amt der Bürgermeisterin von Nieder-Salzbrunn (Niederschlesien) übertragen. Die Amtszeit dauerte nicht lange. Am 28.5.1946 wurde Maria Ansorge aus Schlesien vertrieben. Gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten, der ein Jahr später an Magenkrebs starb, ihrer Schwiegertochter und deren drei Töchtern verließ sie mit ihrer notwendigsten Habe Nieder-Salzbrunn. In einem Güterzug ging es gen Westen. Am 16.7.1946 kam sie mit ihren Angehörigen nach Marl, einem Bergbaugebiet mit einer starken Arbeitertradition. Dort wohnten bereits die Eltern ihrer Schwiegertochter seit den zwanziger Jahren. Schnell wurde die „fünfköpfige Frauenfamilie“ in Marl heimisch. Maria Ansorge wurde wieder in SPD und AWO (Arbeiterwohlfahrt) aktiv und sorgte sich fortan um ihre Schicksalsgefährten, die Flüchtlinge und Heimatvertriebenen. Als Mitglied des Rates der Stadt Marl bekam sie im Sozialausschuss und in vielen ehrenamtlichen Funktionen dazu Gelegenheit.
Als die Sozialdemokratin 1949 für den Bundestag kandidierte, war sie mit 68 Jahren die älteste der SPD-Kandidatinnen für dieses Amt. Als Nachrückerin zog sie 1951 in den Deutschen Bundestag ein, wurde Mitglied des Ausschusses für Heimatvertriebene und des Ausschusses für Kriegsopfer- und Kriegsgefangenenfragen, kümmerte sich also weiter um die Versorgung der Kriegsopferfamilien, insbesondere der hinterbliebenen Frauen, denen sie sich bereits im Reichstag gewidmet hatte. Ihre Schwiegertochter und deren drei kleine Kinder lebten mit ihr zusammen. Aus den Vorträgen, die sie immer noch regelmäßig im Rahmen von Versammlungen hielt, sprach die profunde Kenntnis der sozialen Verhältnisse, die sie am eigenen Leib erlebt hatte.
Ihre erste und einzige Rede im Deutschen Bundestag galt der Kriegsopferversorgung und der Begründung eines Antrags der SPD-Fraktion auf Erhöhung der Elternrente. Leidenschaftlich geißelte sie die Unsinnigkeit von Kriegen und die Absurdität einer geschlechterhierarchischen Arbeitsteilung, wie sie in fast allen Ländern der Welt vorzufinden war. Einfacher und klarer konnte das niemand ausdrücken als Maria Ansorge, die aus einer armen Arbeiterfamilie stammte, selbst Arbeiterin war, zwei Weltkriege erlebt und den Sohn sowie den Lebensgefährten verloren hatte: Die Frauen mussten damals in die Betriebe gehen, um Granaten zu drehen, mit denen sich draußen im Felde ihre Männer gegenseitig niedergeschossen haben. Nun stünden diese Frauen ohne Männer und Söhne und mit einer völlig unzureichenden Versorgung da. Sie verwies in ihrer Rede auch auf die Absurdität des Spruches, mit dem man die Frauen für dumm verkauft habe: Der Dank des Vaterlandes ist euch sicher! Ihre großen politischen Ideen hat sie bis zu ihrem Tode nicht aufgegeben: Wir Alten müssen den Jungen den richtigen Weg zeigen und ihnen die Schulung und das Wissen vermitteln, das sie brauchen, um unsere sozialistische Idee zu verwirklichen. Dazu sind wir nie zu alt!
Gisela Notz/ Berlin
Orte:Siedlungsstraße 3, 45768 Marl
Literatur:Notz, Gisela, Frauen in der Mannschaft, Bonn 2003.
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