Luise Elias / 1865-1923

„O Frauenherrlichkeit, wie bist du im Entstehen,/ Die Welt wird Wunder sehen!“

Bislang wurden wenige Überlieferungen bekannt, die uns zeigen, wie Fragen nach Frauenwahlrecht und politischer Partizipation von Frauen jenseits urbaner Zentren und frauenbewegter Führungspersönlichkeiten im Kaiserreich verhandelt wurden. Luise Elias aus Schwerte, Jüdin, Sozialdemokratin, Dichterin, hat sich zwei Mal ausdrücklich dazu geäußert: als Kolumnistin der Schwerter Zeitung und unter dem Pseudonym „Ernst Heiter“.

Luise Elias rückte durch die Forschungen zur Schwerter Frauengeschichte ins Bewusstsein, mit denen ein Team geschichtsinteressierter Frauen begann, die männlich strukturierte Stadtgeschichte zu erweitern.1 Anlass war das 600-jährige Jubiläum der Stadtgründung. Hille Schultze Zumhülsen befasste sich in einem weiteren Projekt der Schwerter Frauengeschichte intensiver mit Leben und Werk der Dichterin.2 Die Ausrufung der Weimarer Republik 1918 und die Gewährung des allgemeinen Wahlrechts führten 100 Jahre später zu vielfältigen geschichtskulturellen Aktivitäten. Der Historiker Wolfgang Reininghaus, ehemaliger Präsident des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen und in Schwerte geboren, verortete in diesem erinnerungskulturellen Zusammenhang das Leben und Werk von Luise Elias im Kaiserreich, in der Zeit des Ersten Weltkriegs und in der politischen Öffentlichkeit der jungen Weimarer Republik.3 Er konnte dazu auf seine umfassenden fachlichen Kenntnisse der Landesgeschichte, der Geschichte des mittleren Ruhrtals und auf seine Publikationen zu den Wahlen 1919 in Westfalen zurückgreifen. Die Arbeiten der Schwerter Frauengeschichte und sein Aufsatz bilden die Grundlagen der hier präsentierten Lebensgeschichte der Schwerterin Luise Elias.

Tochter aus gutem Hause

Luise Elias wurde am 30. Juli 1865 in Rheda als Tochter des Lehrers Abraham Steinweg (1831-1901) und seiner Frau Sibilla (1838-1891) geb. Treu geboren.4 Ihr Vater hatte das Haindorfsche Lehrerseminar in Münster besucht5 und arbeitete als Lehrer in Oelde und Rheda. Ihre Mutter kam aus Drove bei Düren. Das Ehepaar hatte neun Kinder. Luise Elias heiratete am 12. November 1893 mit 28 Jahren den Mode- und Textilhändler Sally Elias (1865-1928) und zog nach Schwerte.6 Dort eröffnete Sally Elias in der Wilhelmstrasse 34 eine Filiale von Treu & Co., einem Geschäft seiner Schwäger, später wurde das Geschäft an die Hüsingstrasse 1 verlegt. 7 Sally Elias stand 1896 der jüdischen Synagogengemeinde vor. Das Ehepaar Elias hatte drei Kinder, eines starb bereits im Kindesalter 1899.

Luise Elias veröffentlichte ab 1898 Gelegenheitsgedichte in der Schwerter Zeitung unter dem Pseudonym „Ernst Heiter“. Das Pseudonym lässt sich eher als Kolumnentitel sehen, der in Reimform alles „Vermischte“ zwischen ernsten und heiteren Themen ansprach, als dass er Anonymität sicherte, denn um 1900 lebten in der Stadt Schwerte rund 10.000 Menschen,8 in der Altstadt lag alles eng beieinander. Luise Elias nutze mit „Ernst Heiter“ ein Pseudonym, unter dem wohl als erster Adolf Glasbrenner (1810-1876) zur Zeit der Reaktion nach der Revolution 1848/49 eine humoristische Zeitschrift herausgab.9

Die Schwerter Zeitung

1868 gründete der 29-jährige Buchdruckermeister Carl Baus, aus Wuppertal zugezogen, eine Buchhandlung und eine Buchdruckerei, in der er ab Juli das Schwerter Wochenblatt produzierte, das zwei Mal wöchentlich erschien. Das Wochenblatt entwickelte sich zur Tageszeitung weiter, auch ein Zeichen für die Industrialisierung, die Schwerte mit dem Anschluss an das Eisenbahnnetz 1867 erfasste. Ab dem 2. Januar 1875 firmierte das Blatt unter dem Titel Schwerter Zeitung.10 Die Gedichte Luise Elias‘ erschienen unregelmäßig fast immer am Samstag. Zwischen einzelnen Gedichten lagen manchmal mehrere Wochen, durchschnittlich wurden zwischen 1898 und 1923 zwei Gedichte pro Monat publiziert. Wilfried Reininghaus bemerkt, dass zu den Samstagen vor den christlichen Feiertagen keine Gedichte von ihr erschienen und stellt die Frage in den Raum: „Mochte Braus die Gedichte zu diesen Terminen keiner Jüdin anvertrauen?“11 Die Gedichte hatten einen festen Platz zwischen den überregionalen Nachrichten und dem Lokalteil. Sie bildeten eine Brücke zwischen dem globalen und dem lokalen Geschehen. Sie erschienen ab einer Zeit, als der Sohn Johannes Baus (1872-1919) nach dem plötzlichen Tod seines Vaters den Verlag übernommen hatte.

Noch eine Frauengeschichte

Ein Nebenschauplatz: Mit der Geschichte der Schwerter Zeitung tut sich noch eine andere Schwerter Frauengeschichte auf. Während der Abwesenheit ihres Mannes im Ersten Weltkrieg und nach seinem Tode als Folge der Kriegsverletzungen führte Magdalene Baus (1882-1954) das Druck- und Verlagshaus, zwei Geschäfte sowie einen Riesenhaushalt mit sieben Kindern. 1922 heiratete sie, Vierzigjährig, den Schriftsetzermeister Hans Linner aus Oberbayern, der das Geschäft von nun an leitete. Als er 1955 starb, übernahmen die gemeinsamen Töchter Rosel (1924-1979) und Magdalena Linner (1927-1991) den Betrieb. Rosel Linner studierte Zeitungswissenschaften in Leipzig und Freiburg und promovierte in Erlangen in Geschichte und Germanistik. Sie lernte bei ihrem Vater das Druckereihandwerk und arbeitete als Verlegerin und Journalistin für die Schwerter Zeitung, bis diese Lokalzeitung im Zuge der Medienkonzentration 1968 in den Ruhr Nachrichten aufging. 1973 wechselte sie aus familiären Gründen zur Charmer Zeitung in die  Oberpfalz. 12

Das Gedicht Zum Frauen-Kongress!

Am 11. Juni 1904 publizierte Luise Elias das Gedicht Zum Frauen-Kongress! in der Schwerter Zeitung. Vom 12. bis 18. Juni 1904 fand in Berlin ein international hochkarätig besetzter Kongress des International Council of Women (ICW) statt. Mehrere Hundert Delegierte aus den 16 Mitgliedsstaaten und noch mehr Interessierte tauschten sich in der Berliner Philharmonie über Bildung, Beruf, Recht aus und diskutierten gemeinsame Positionen in der Frauenfrage. Das Begleitprogramm für die ausländischen Gäste sah neben Vorträgen und Exkursionen Empfänge bei Reichskanzler von Bülow (1849-1929) und bei Kaiserin Auguste Victoria (1858-181921) vor. Diese internationale Vernetzung wurde zugleich als „Plattform für die internen Auseinandersetzungen der nationalen Organisationen“ genutzt, wie Katja Koblitz herausgearbeitet hat.13 Anita Augsburg (1857-1943) vom radikalen Flügel der deutsche Frauenbewegung und Aletta Jacobs (1854-1929) von der Frauenstimmrechtsbewegung in den Niederlanden versprachen sich von der internationalen Aufmerksamkeit vor allem einen Schub für die politische Forderung nach Frauenstimmrecht im Deutschen Reich, eine Forderung, die im Bund Deutscher Frauenvereine – der 1894 gegründeten Dachorganisation der bürgerlichen Frauenbewegung – zu diesem Zeitpunkt kontrovers und zurückhaltend verhandelt wurde und nicht explizit Thema des ICW-Kongresses war.  Seit 1899 bemühte sich der radikale Flügel der deutschen Frauenbewegung, das Thema auf der nationalen Agenda zu positionieren und durch die Internationalisierung der Stimmrechtsfrage den konservativen Bund Deutscher Frauenvereine unter Druck zu setzen. Eine Woche vor dem Kongress tagte deshalb im Prinz Albert Hotel ein eigener Kongress der International Women Suffrage Alliance (IWSA) unter entscheidender Mitwirkung des 1902 gegründeten Deutschen Vereins für Frauenstimmrecht. Diese Veranstaltung brachte das Frauenwahlrecht prominent und pressewirksam in die Öffentlichkeit: „Der Deutsche Verein für Frauenstimmrecht nutzte somit die Prominenz der bereits angereisten Vertreterinnen aus dem Ausland, um die fehlende Thematisierung des Frauenwahlrechts auf dem ICW-Kongress zu unterlaufen – durchaus mit Erfolg, denn in der Presse wurden (…) beide Tagungen zumeist gemeinsam und positiv rezipiert, und noch im selben Jahr gründet sich als nationale Organisation der Deutsche Verband für Frauenstimmrecht.“14

Luise Elias reagiert mit ihrer Veröffentlichung am 11. Juni 1904 in der Schwerter Zeitung nicht rückblickend auf das Ereignis. Sie greift mit ihrem Gedicht Zum Frauen-Kongress! in den öffentlichen Diskurs ein, der mit der Vorberichterstattung auf den Kongress einsetzte. Ihr Gedicht ist ein beredter Beleg dafür, dass die Medienstrategien des radikalen Flügels der deutschen Frauenbewegung aufgingen, denn auch in Schwerte wurde – zumindest für Luise Elias und ihr Zeitungspublikum – das Wahlrecht ein Thema.

„Zeitgemäße Reime

Zum Frauen-Kongress

Und wieder tagte ein Kongreß

In diesen Frühlingstagen,

Bei dieser ‚Tagung‘ hat indeß

Kein Mann ein Wort zu sagen,

Denn durch die Welt kling’s hell und weit:

Die größte Frage dieser Zeit,

wie auch der künftgen Tage

Bleibt doch die Frauenfrage!

Drum sah man unlängst in Berlin

Und zwar aus allen Ländern

Viel Frauen zum Kongresse ziehn,

wohl in ‚Reform‘-Gewändern,

Denn nach ‚Reform‘ lechzt allerwärts

Das sehnsuchtsvolle Frauenherz,

seit sich der Wunsch bemächtigt

Des Wörtchens ‚gleichberechtigt‘!

Nun ruft zum Kampf der Frauenbund

Der Internationale:

Es hebt der Gleichberecht’gungs-Grund

Die Stellung. Die soziale,

Drum Schwestern all‘, seid auf dem Damm!

Dem alten Satz Ou est la femme

Soll neue Antwort werden

In jedem Land auf Erden!

Manch Ehemann sitzt still beiseit

Und singt von schönen Stunden:

O alte Burschenherrlichkeit,

Wohin bist Du entschwunden!

Die Frau indes zur selben Zeit

Beginnt: O Frauenherrlichkeit,

wie bist du im Entstehen,

Die Welt wird Wunder sehen!

O neue Frauenherrlichkeit,

O neue Zukunftssonne!

Bald leuchtest du der jüngsten Maid

Zu neuer Daseinswonne,

Es geht im neuen Säkulum

Das Mädchen aufs Gymnasium,

Es darf auch schon studieren

Und hier und da amtieren!

Die Mägdlein sind sehr ‚wählerisch‘,

viel mehr noch als die Knaben,

Drum wollen sie vom ‚grünen Tisch‘

Das ‚Wahlrecht‘ schriftlich haben,

Indeß wenn man’s bei Licht besieht:

(`ist kein Malheur, wenn’s nicht geschieht)

Dem weiblichen Geschlechte

Gebühren andere Rechte!

O stolze Frauenherrlichkeit

Warst Du nicht stets vorhanden.

Zwingt nicht die Frau zu jeder Zeit

Den stärksten Mann in Banden?

Seufzt nicht manch schwacher Ehemann:

Jetzt hat die Frau die Hosen an!

Was auch der Gatte leiste,

Gilt nicht ihr Wort das meiste?

Der Jüngling liebt den rauhen Pfad

Und Kühnheit ziert sein Treiben,

Der Jüngling stellt sich als ‚Soldat‘

Die Jungfrau läßt dies bleiben,

hier führte Gleichberecht’gung nur

Zu einem Zweispalt der Natur!

„Bis hierher und nicht weiter!

Dröhnt’s dann mit Macht!

Ernst Heiter“15

Dieser Text ist von seinen medialen Verbreitungsbedingungen bestimmt: Er erscheint als Unterhaltungstext in einer bürgerlichen, christlich ausgerichteten Tageszeitung, die das imperiale, nationale Projekt des Kaiserreichs unterstützt und den Bestrebungen der Sozialdemokratie eine klare Absage erteilt.16 Er ist polyvalent, lässt sich also heute wie damals mehrdeutig interpretieren und verarbeitet Alltagsgespräche, wie sie an der Ladentheke, beim Gesangsverein oder am Stammtisch stattfanden, gerade wenn auch im sich industrialisierenden Schwerte plötzlich Mädchen aus bürgerlichen Schichten das Bedürfnis verlauteten, studieren zu wollen oder Reformkleider und ungewohnte Frisuren trugen.

Die Autorin sieht das Zeitalter der alten „Burschenherrlichkeit“ überwunden. Diese Formulierung, die auf eine spezifische männerbündische Kultur des Studentenlebens verweist, wie sie heute noch in Burschenschaften hochgehalten wird, ist nicht nur im übertragenen Sinne zu verstehen, sondern im konkreten, strebten doch 1904 zunehmend  Frauen zum Studium an die Universitäten und stellten das hergebrachte Selbstverständnis des universitären Milieus infrage. Der Begriff „Burschenherrlichkeit“ gehörte zum allgemeinen Sinn- und Deutungshorizont der Gesellschaft: Er war nicht nur durch das im Gedicht anklingende Lied „O alte Burschenherrlichkeit“ präsent, sondern auch durch beliebte Postkartenmotive, die die Studenten verschickten.

Luise Elias feiert stattdessen „Frauenherrlichkeit“, nachdem die Frage nach Bildung auf den Weg gebracht worden ist – „Es geht im neuen Säkulum/ Das Mädchen aufs Gymnasium“ – und Frauen auch schon studieren können. Nun schreitet der Weg zur Gleichberechtigung weiter voran. In den letzten drei Strophen greift Luise Elias die Argumente auf, mit der die (nicht nur) bürgerliche Gesellschaft ihrer Zeit männliche Vormachtstellungen verhandelt: Wehrdienst für den Mann, das natürlich vorgestellte Geschlechterverhältnis, das bei einer Gleichberechtigung zu einem „Zweispalt der Natur“ führe, die rund um die „natürliche“ Veranlagung des weiblichen Geschlechts seit alters her gewohnheitsmäßig ausgeübten Machtposition im Privaten der Familie – „Gilt nicht ihr Wort das meiste?“ – lassen weitergehende Forderungen anmaßend erscheinen. Das Patriarchat, so könnte eine Lesart des Gedichtendes lauten, wird seinen Herr-im-Haus-Standpunkt nicht so einfach abtreten, wenn es ernst wird: „Bis hierher und nicht weiter! Dröhnt’s dann mit Macht!“ Ein indirekter Hinweis auf Sympathien mit den Forderungen der Frauenbewegungen lässt sich festmachen an der Formulierung: „Drum wollen sie vom ‚grünen Tisch‘ das ‚Wahlrecht‘ schriftlich haben, Indeß wenn man’s bei Licht besieht: (`ist kein Malheur, wenn’s nicht geschieht) Dem weiblichen Geschlechte Gebühren andere Rechte!“ In den drei letzten Strophen referiert sie gesellschaftliche Positionen, wie der gewählte Konjunktiv der indirekten Rede andeutet: „ … hier führte Gleichberecht’gung nur zu einem Zweispalt der Natur!“17 Der Schluss läst die Interpretation zu, dass es nicht einfach sein wird, eine Transformation im Geschlechterverhältnis herbeizuführen und Frauenbewegungen aufgrund gesellschaftlich lang tradierter Rollenmuster mit erheblichem, dröhnendem Gegenwind zu rechnen haben: „Bis hierher und nicht weiter!

Am Samstag den 18. September 1904 bringt die Schwerter Zeitung in ihrer Wochenschau auf der Titelseite nicht nur den Hinweis, dass „aus unserer deutsch-südwestafrikanischen Kolonie“ die Ankunft des neuen Oberbefehlshabers des Expeditionskorps gegen die Herero, des Generalleutnants von Trotha gemeldet wird, sondern auch einen Hinweis auf den Frauenkongress in Berlin: „‘Dieser Kuß der ganzen Damenwelt,‘ mag der Reichskanzler Graf Bülow gedacht haben, als er bei einem gesellschaftlichen Empfang der leitenden Persönlichkeiten des zur Zeit in Berlin tagenden internationalen Frauen-Kongresses der greisen Wortführerin der nordamerikanischen Frauenrechtlerinnen Miß Susanne Anthony verbindlich die Hand küsste. (…) Denn an eine praktische Verwirklichung dessen, was die Damen neu fördern [sic!] ist bei uns in Deutschland nicht zu denken, und vieles von dem, über welches fremde Damen sehr gewandt sprachen, steht bei uns schon besser, wie im Auslande. Auch die deutsche Kaiserin hatte bei einem Empfang der Damen mancherlei Wünsche, die sie ihrem hohen Gemahl mitteilen sollte, zu vernehmen, zog sich aber gewandt aus der Schlinge etwaiger Verpflichtungen, indem sie lächelnd sagte: ‚Die Herren wollen nicht immer alles hören!‘“ 18 Diese Verwobenheit der Meldung über den Frauen-Kongress in Berlin in der Schwerter Wochenschau mit einer Berichterstattung zum Hereroaufstand, den deutschen Interessen in Marokko, den deutschen Ansiedlern in Südafrika und der Sommerpause des Parlaments zeigt, dass die Frauenfrage und die öffentlichkeitswirksam inszenierten Kongresse in Berlin auch in Schwerte auf ein interessiertes Zeitungspublikum stießen.

Zum Frauenkongress 1904 in Berlin

Das Interesse an einer diversen, transkulturellen Ruhrgebietsgeschichte als Geschlechtergeschichte erweitert an dieser Stelle die bisherigen Erzählungen zum Kongress19 um den Hinweis, dass in Berlin 1904 auch eine Woman of Colour sprach: Mary Church Terrell (1863-1854) aus Washington, D.C. Sie war Mitbegründerin und erste Präsidentin der National Association of Coloured Women, die 1896 aus der National Federation of Afro-American Women and the National League of Coloures Women entstanden war.20Mary Church Terrell stand mit drei weiteren Aktivistinnen auf einer Liste, die Alice Salomon (1872-1948) als Vorstandsmitglied und Schriftführerin des Bundes Deutscher Frauenvereine als Kongressorganisation zugeschickt worden war. Die Namen der weiteren vorgeschlagenen Vertreterinnen lauteten: Mrs. Booker T. Washington, Mrs. B. K. Bruce, Mrs. Coralie Franklin Cook.21

Mary Church Terrell sprach am 13. April über die „Lage der farbigen Dienstboten“, am Abend des gleichen Tages dann über „Die Fortschritte der farbigen Frau“. Sie begann ihren Vortrag: „Ich glaube, daß mein Erscheinen in dieser illustren Versammlung wohl aus zwei Gründen Aufmerksamkeit verdient. Erstens bin ich die einzige Frau auf diesem Kongress, welche eine Rasse vertritt, die kaum 40 Jahre sich der goldenen Freiheit erfreut, und zweitens die einzige, deren Eltern tatsächlich Sklaven waren, und die es nur der Güte der Vorsehung verdankt, diesem Los entgangen zu sein. Sie schauen mich an und denken bei sich: ein weißer Rabe, in der Tat! Ich aber weile froh und guten Mutes heute Abend in ihrer Mitte, auch aus zwei Gründen: erstens freue ich mich der Emanzipation meiner Rasse, und dann der allgemeinen Erhebung des weiblichen Geschlechts!“22 In einem Brief an ihren Mann Robert schrieb sie noch am Abend, völlig überwältigt vom Tage: „My reception here tonight was an ovation! People stood up in that wonderful Philharmonie, where all the finest concerts are held and [shouted?] ‘bravo’ and applauded until the presenting officer had to ring a bell to make them sit down so that she could go on with the program. I spoke in German and I must say I did well. (…)”23

Kriegslyrik

Das Gedicht zum Frauen-Kongress bildet mit seiner dezidiert frauenbewegten Thematik eine Ausnahme im lyrischen Schaffen von Luise Elias. Winfried Reininghaus hat sich in seiner politikgeschichtlichen Auswertung der Texte auf die Kriegszeit 1914 bis 1918 und die junge Republik konzentriert und zeigt: Während Luise Elias am 25. Juli 1914 die aufkommende Kriegsgefahr noch in Sätzen wie „Rings sprießt des Friedens edle Saat,/ der Liebe Macht bleibt Sieger“ fasst, wurde die Kriegsgefahr bereits eine Woche später explizit Thema. Ihr Gedicht vom 8. August 1914 folgt der allgemeinen nationalistischen Mobilisierung: „Deutschland, steh auf“, „Deutschland, schlag drein“, „Einig und stark“, „Treu bis zum Tod“. Winfried Reininghaus verzeichnet einen Wandel von „friedliebenden Untertönen zu solcher martialischen Schreibweise binnen vierzehn Tagen (…)“24Noch gegen Kriegsende verlautete Luise Elias Durchhalteparolen und im Oktober 1918, „als nach heutiger Erkenntnis die Mittelmächte den Krieg verloren hatten“25,  warb sie noch für die Zeichnung von Kriegsanleihen und propagierte: „Stark und treu, dann wird das Schwerste überwunden.“26 Diese – wie Reininghaus es vorsichtig nennt – „kriegerische Grundhaltung gegenüber den äußeren Feinden Deutschlands“27 prägt ihre Gebrauchslyrik bis Kriegsende. Reininghaus konstatiert: „Die Dichterin irritiert uns.“28 Sein Fazit: Wie andere Autor:innen dieser Zeit forcierte sie in nationalistischem Duktus deutsches Heldentum, pflegte stereotype Feindbilder und eine „Heroisierung des Soldatischen“.29

Damit folgte Luise Elias der politischen Linie der Schwerter Zeitung und der propagandistisch ins Werk gesetzten Mobilisierung der Heimatfront. Die Tageszeitung unterlang der Zensur und es wäre nicht möglich gewesen, zum Beispiel für Pazifismus einzutreten, wie Reininhaus erklärt.30Dies hätte aber auch nicht der verlegerischen Linie der Zeitung entsprochen, in der Luise Elias ihre Gebrauchslyrik positionierte.

Selten scheinen in den Gedichten  konkrete Hinweise auf die Lebensbedingungen auf, so wenn sie am 24. August 1918 Die fleischlosen Wochen anpreist, die einmal pro Monat eingeführt wurden:

„Der Mensch kann vieles, wenn er muß,

Der Krieg macht ihn bescheiden,

So müssen wir den Fleischgenuß

Zeitweilig gänzlich meiden;

Mit manchem lieben alten Brauch

Ist neuerdings gebrochen,

So tragen wir das Neueste auch,

Es gibt fleischlose Wochen.

(…)

Die Pflanzenkost in Küch‘ und Haus

Kommt glänzend zur Bewährung,

und gleicht die Gegensätze aus

Bezüglich der Ernährung;

Fleischlose Wochen überall,

An jedem deutschen Orte,

Verboten ist der Sonderfall

Für Geld und gute Worte.

Die neue Ernte stärkt den Mut,

Mit dem wir vorwärts blicken,

Und stehet es auch da draußen gut,

so kann uns nichts bedrücken;

Gern opfert, was er kann und muß,

Auch hier der Heimat Streiter,

Drum stellt er jetzt den Fleischgenuß

Zeitweilig ein. Ernst Heiter“.31

Diese Verse sind eine aussagekrägtige Quelle zur Mobilisierung der Heimatfront, die über verschiedenste Medien wie Plakate, Gedichte, Postkarten, Feiern, Spielzeug und eben auch Medienbeiträge ins Werk gesetzt wurde. Luise Elias propagiert den Verzicht am heimischen Herd als gern geleistetes „Opfer“ und setzt ihn in Bezug zu dem „da draußen“ – gemeint ist die Front. Sie beschwört in ihren Reimen die Tugenden der westfälischen Hausfrau: „Nun häuft der Hausfrau fleißge Hand/ Mit Kohl und Kraut die Teller (…).“ Und deutet das Hamstern als Alltagspraxis wenigstens an: „Nur, wer aufs Hamstern sich verstand,/ Steigt heimlich in den Keller.

Für Wilfried Reininghaus klingen die drei im November 1918 veröffentlichten Gedichte, als sich die Zensur lockerte und schließlich entfiel, „authentischer“.32

Am Vortrag zur Wahl zur Nationalversammlung am 19. November 1919 veröffentlichte Luise Elias Auf zur Wahl! Sie wirbt in diesem Text nach den Wortgefechten des Wahlkampfes für den Gang zur Urne und appelliert an die weibliche Wählerschaft, das Wahlrecht als Wahlpflicht zu verstehen:

(…) „Drum geht der Ruf durch Land und Stadt

Für die gerechte Sache,

Daß jeder, der ein Wahlrecht hat,

Gebrauch von diesem mache;

Daß keiner stumpf zu Hause bleibt

Und diesen Akt verfehle,

Daß ihn die Pflicht zur Urne treibt,

Er gehe hin und wähle! (…) 

Es hallt so lang der Widerstreit

Bis daß die Wahl gewesen.

Doch diesmal sind zur Mitarbeit

die Frauen auserlesen!

Unübersehbar ist die Zahl

Der Weiblein, die heut wählen,

Es darf bei dieser Damenwahl

Kein deutsches Mädchen fehlen! (…)“ 33

Gedichte für die junge Republik

In den Gedichten für die junge Republik werden die Erfahrungen mit Mangel, Not, Bangen und Hoffen auf ‚Wohlfahrt‘ explizit angesprochen, was sicherlich auch den gelockerten Zensurbestimmungen geschuldet ist. Bei der Lektüre der Schwerter Zeitung wird klar, wem die politische Verantwortung für Instabilität, für Chaos, Not und Leid angesichts von Streiks und Aufständen zugewiesen wird: „Spartakus“. Im Gedicht Winter vom 3. Februar 1919 heißt es: „(… ) Ohne Butter, Eier, Fett/ abgemagert zum Skelett,/ Blicken wir mit bangen Sorgen/ Trüben Sinns von heut auf morgen (…) Wie die Dinge leider liegen, ist die Kohlennot gestiegen/ Und man hilft in Stadt und Dorf/ Sich bereits mit Holz und Torf (…)“34Der Text ist getragen von der Position der Mehrheitssozialdemokratie, die die Streiks und Aufstände der Bergleute im Ruhrgebiet verurteilte und stattdessen „Arbeit“ für den Wiederaufbau ins Zentrum ihres politischen Programms stellte. Luise Elias textet: „(…) Aber ohne Kohle nie/ kann bestehn die Industrie,/ Und das Unglück macht sich breiter,/ Drum geht es nicht so weiter (…) Jeder, der die Ordnung liebt,/ Fasse zu, wo’s Arbeit gibt,/ Daß die Produktion er mehre,/ Je mehr Arbeit, je mehr Ehre! (…) Arbeit sei der Trostbereiter,/ Der uns aufwärts führt! Ernst Heiter.“35

Der Versailler Vertrag ist für Luise Elias untragbar, auch als Sozialdemokratin. Sie sorgt sich um die junge Republik, so in dem Gedicht Adventszeit mit der Zeile: „Es kann die junge Republik/ Sich gar nicht recht erholen (…)36 vom 13. Dezember 1919. Im Gedicht April 1920 bezieht sie sich auf den Kapp-Putsch: „(…) Braust ein neuer Sturm zu Tal,/ Neue Schrecken zieh’n vorüber!/ An der Ruhr gibt‘s keine Ruh,/ Und die Not nimmt täglich zu,/ Darum mit dem Druck der Waffen/ Soll die Reichswehr Ordnung schaffen.“37Angesichts der nicht enden wollenden Aufstände, Krisen, Widrigkeiten mischt sich Resignation unter die Reime: „(…) Trübe ist die Gegenwart,/ Doch der gute Bürger harrt/ Duldsam der Erlösung weiter,/ Die nicht kommen will! Ernst Heiter.“38

Am Samstag, den 13. Januar 1923 ruft die Schwerter Zeitung mit einer großen Anzeige auf dem Titelblatt auf zur „Protest-Kundgebung der gesamten Bürgerschaft gegen die Besetzung des Ruhrgebietes am Sonntag, den 14. d. Mts., 12 Uhr mittags auf dem Marktplatz zu Schwerte. Der Bürgermeister“.39 Auf der zur Ausgabe gehörenden Humorbeilage zur Schwerter Zeitung veröffentlicht Luise Elias ihr Gedicht Neue Stürme. Darin nimmt sie nicht nur Bezug auf die Inflation, sondern in blumigen Worten mit Friedrich Schillers Worten auch auf die Ruhrbesetzung: „(…) Es kann auf dieser schönen Welt/ Der Beste nicht in Frieden leben,/ Wenn es dem Nachbarn nicht gefällt. (…) Und schließlich rückt er ihm ins Haus/ Und holt, was er noch hat heraus./ (…)40

Ihr letztes Gedicht erschien am 3. Februar 1923 in der Schwerter Zeitung.

Jüdin und Sozialdemokratin

Luise Elias trat 1918 in die Sozialdemokratische Partei (SPD) ein. Sie kandidierte für die Wahl zum Schwerter Stadtparlament mit der Berufsbezeichnung „Schriftstellerin“, nachdem sie zuvor bereits zusammen mit der sozialdemokratischen Funktionärin und renommierten Rednerin Anna Lex aus Dortmund im Wahlkampf zur Nationalversammlung aufgetreten war. Überliefert ist die Ankündigung zu ihrem Vortrag „Antisemitismus und Wahlagitation“ am 11. Januar im Westfälischen Hof.41

Von ihrer bürgerlichen Herkunft aus der Kaufmannschaft, als Angehörige der jüdischen Synagogengemeinschaft und als Frau mit frauenbewegten Interessen hätte sich für Luise Elias die neu gegründete Deutsche Demokratische Partei (DDP) als politische Heimat angeboten, vereinigte doch die DDP das linksliberale Bürgertum und war offen gegenüber der Mehrheitssozialdemokratie. In den Nachbarstädten vertraten einflussreiche Frauen mit bekanntem Namen in der Frauenbewegung wie Li Fischer-Eckert (1882-1942)42 aus Hagen und Martha Dönhoff (1987-1955) aus Witten prominent die DDP. Die DDP bezeichnete sich selbst als „Partei der denkenden Frauen“ und richtete sich mit diesem Wahlslogan mit einer eigenen Anzeige zur Stadtverordnetenwahl an die „Haufrauen! Berufsfrauen!“. Sie zielte mit dieser differenzierenden Ansprache auf die unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionierungen und Erfahrungen von Frauen.43 Auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es bereits ein Bewusstsein für Diversität in Frauenleben – „die Frau“ hat es im politischen Diskurs der Frauenbewegungen nicht gegeben. Beispielhaft sei hier auf Clara Zetkin verwiesen, die in ihrem Buch Die Arbeiterinnen- und Frauenfrage der Gegenwart  für jede Klasse eine eigene Frauenfrage umriss.44

In Schwerte kandidierte der jüdische Textilhändler Bernhard Stern für die DDP. Luise Elias kandidierte hingegen für die Sozialdemokratie. Neben politischer Zustimmung lassen sich die Gründe für die milieuspezifisch ungewöhnliche Pateinahme nicht abschließend klären. Aber: Die SPD hatte wie keine andere Partei seit langem den Kampf gegen das Dreiklassenwahlrecht und die Gleichheit der Geschlechter geführt, sie hatte sich offen gegen den aufkommenden Antisemitismus gestellt. Vielleicht gab es aber auch einfach gute, konstruktive Beziehungen zu den Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten der näheren Umgebung …  Vielleicht aber hatte die Partei auch mit einem guten Listenplatz bei der Kommunalwahl für sie geworben, denn ihr Name stand auf Platz drei der Wahlliste.

Antisemitismus

Es gibt eine  Spur, die auf eine inhaltliche Entscheidung hinweist: Lise Stern, Tochter des jüdischen Kaufmanns und Kandidaten der DDP für das Stadtverordnetenparlament in Schwerte, reagierte mit einem Leserbrief in der Schwerter Zeitung auf eine Wahlveranstaltung mit dem Hagener Justizrat Schulz von der Deutschen Volkspartei. Eine Passage soll hier zitiert werden, weil die Reaktion im Umkehrschluss Einblicke in die Verwendung von Antisemitismus als Mittel politischer Hetze gibt, die als Strategie noch heute zur Anwendung kommt: „Nicht wahr, Herr Schulz, die Sozialdemokratie als solche anzugreifen, das überlegen Sie sich wohl! Aber es gibt ja noch eine kleine Minderheit in Deutschland, dagegen zu kämpfen, müsste eigentlich gelingen. Man bedenke doch, 65 Millionen gegen Fünfhunderttausend (…) Warum sind so manche Juden überzeugte Anhänger der Sozialdemokratie? Weil sie früher in der sozialdemokratischen Partei allein die Verwirklichung ihrer hohen Weltanschauung fanden: die Ansicht von jeder Gleichheit aller Menschen, die ein Gott erschaffen. Und dann kämpfen die Sozialdemokraten mit ihnen für ihren Idealismus, für ihren Glauben an den Fortschritt der Menschheit. (…) Wie kann er es wagen, einen Teil des Volkes von der deutschen Gemeinschaft ausschließen zu wollen? Wir Juden sind nicht international! Wir sind deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens! (…)“ 45 Lise Stern spricht mit dem Leserbrief nicht für die Sozialdemokratie, sondern sie zeigt als „deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, wie Antisemitismus politisch eingesetzt wird – heute würden wir sagen, wie das ‚Othering‘, das Verandern und Disqualifizieren, im politischen Diskurs funktioniert.

Während des Ersten Weltkriegs arbeiteten die Frauenorganisationen der Religionsgemeinschaften eng zusammen an der ‚Heimatfront‘. So leitete die Christin Agnes Tütel zusammen mit Johanna Reifenberg von der jüdischen Gemeinde gemeinsam das Rote Kreuz und die Mütterberatungsstelle.46 Im April 1914 überwies der israelitische Frauenverein 300 Reichsmark für die Unterstützungszwecke der Stadt; der Betrag ist für die wenigen Mitglieder hoch, der Sauerländische Gebirgsverein zum Beispiel spendete nur 100 Reichsmark.47 1917/18 stiftete der israelitische Frauenverein erneut 200 Reichsmark für das Kinderheim des Kreises Hörde.48 Im Jahre 1923, dem Jahr, in dem Luise Elias starb, lebten in Schwerte 15.560 Einwohner, die Synagogengemeinde zählte laut Adressbuch 1923 41 Familien. Die meisten waren, wie ihr Mann Sally Elias, als Kaufleute tätig.49 Die jüdischen Familien in Schwerten pflegten mit ihren christlichen Nachbarn gute Beziehungen, so in den Schwerter ‚Schichten‘, dies waren Nachbarschaften, die das gesellige Leben der Stadt prägten.50

Die Kommunalwahlen in Schwerte

Aufgrund der Verordnung über die Neuregelung des Gemeindewahlrechts vom 24. Januar, bzw. der Nachtragsverordnung vom 31. des Monats wurden die Neuwahlen in Schwerte auf den 2. März 1919 von 9 Uhr bis 20 Uhr angesetzt.51Auch hier sollte nun das allgemeine, gleiche, geheime Wahlrecht nach den Grundsätzen des Verhältniswahlrechts, unabhängig von Geschlecht für alle über 20 Jahren gelten und nach Reichsebene und Landesebene auch die Entscheidungsstrukturen der Städte und Gemeinden demokratisieren. Damit endete die Honoratiorenpolitik auf Gemeindebene, die sich vorzüglich im Dreiklassenwahlrechts eingerichtet hatte. Die geplante Demokratisierung der Gemeindeebenen führte im ganzen Land zu Protesten. Es gab handwerkliche Fehler, die in Folge behoben wurden, so, dass Frauen nun zwar „zu Stadt- oder Gemeindeverordneten gewählt werden konnten, aber keine ehrenamtliche Arbeit in den Kommissionen auf Gemeindebene verrichten durften.“ 52 Doch in erster Linie ging es ganz unverblümt um Machterhalt.53 In Schwerte zum Beispiel meldete sich wie andernorts54 am 17. Februar die Lobby der Landwirte und kritisierte unmissverständlich, dass in den industrialisierten Teilen Westfalens die Neuordnung der Wahl eine „bedenkliche Zurückdrückung der eingesessenen Landwirte in der Gemeindevertretung gegenüber der flukturierenden Industrie-Bevölkerung“ bewirken würde, die alteingesessenen Landwirte sahen ihre Interessen „auf das schwerwiegendste“ gefährdet und drohten indirekt mit Versorgungsengpässen. Auch der westfälische Provinzialausschuss legte Protest gegen die Neuordnung ein.55 Hier ging es klar und deutlich um den Erhalt von klassenspezifischen Privilegien, die die alte Landgemeindeordnung von 1856 abgesichert hatte.

In Schwerte verzeichnete man zur Wahl des Stadtparlaments am 2. März so wie überall im Reich eine große Wahlmüdigkeit, Frauen und Männer nutzen nicht mehr so zahlreich ihr Wahlrecht wie noch bei der Wahl zur Nationalversammlung. Im neuen 30-köpfigen Stadtparlament erhielt die SPD 12 Sitze, das Zentrum fünf, die Liste der Beamten drei Sitze, die Liste der Handwerker drei Sitze, der Zusammenschluss von Deutscher Volkspartei und Deutschnationaler Volkspartee drei Sitze, die Liste der Demokratischen Partei drei Sitze und die Unabhängige Sozialdemokratie einen Sitz. Es zogen als Frauen Luise Elias für die Sozialdemokratie in das Stadtparlament ein, die auf Platz 3 der Wahlliste stand, sowie die Konrektorin der Haselack-Schule, Sophie Ludwig (1862-1941), für das Zentrum, die auf Platz 5 ihrer Liste nominiert worden war. Das Stadtparlament hatte sich nicht nur von 17 Personen männlichen Geschlechts auf 30 erweitert, wozu nun auch zwei Frauen gehörten: Von den bisherigen ‚Stadtvätern‘ waren nur vier wieder in das Stadtparlament zurückgekehrt.56Damit übernahm ein vollständig anders zusammengesetztes Gremium die parlamentarische Arbeit für die Stadt. Am 20. März 1919 trat die neue Stadtverordnetenversammlung unter großem Interesse der Öffentlichkeit auf der Tribüne zum ersten Mal zusammen: „ (…) die beiden ‚Stadtmütter‘, auf die sich wohl das Hauptinteresse der zahlreicher [sic!] weiblichen Tribünen-Besucher konzentrierte, Frau Elias und Fräulein Ludwig, hatten inmitten ihrer Fraktionen Platz genommen.“57 Mehr lässt sich zu den ersten Parlamentarierinnen in Schwerte aus der Zeitung nicht  erfahren. Angesichts der gewaltvollen Zeiten ist vielleicht der Hinweis wichtig, dass die erste Zusammenkunft des neuen, demokratisch gewählten Vertetungsgremiums von Bestrebungen geprägt war, Eintracht und Entgegenkommen walten zu lassen.

Eine interessante Frau

Luise Elias nahm in dreifacher Hinsicht zu ihrer Zeit eine Außenseiterstellung ein: Als bürgerliche Frau eines Textilkaufmanns gehörte sie einer Fraktion an, die zumeist aus gewerkschaftlich organisierten Metallarbeitern der beiden großen Schwerter Fabriken, den Nickelwerken und der Eisenindustrie, stammten. Sie war die einzige Angehörige der jüdischen Synagogengemeinde im Schwerter Stadtrat. Insgesamt waren in den westfälischen Kommunalparlamenten kaum Angehörige der jüdischen Minderheit vertreten. Nach den empirischen, forschungsgesättigten Daten von Winfried Reininghaus fanden sich jüdische Mandatsträger nur in westfälischen Städten wie Dortmund, Bochum, Hagen, Hamm, Unna, Hörde, Aplerbeck, im Münsterland in Dülmen, Vreden, Ahaus sowie in Ostwestfalen-Lippe in Herford und Lemgo.58 Nun können wir für mittlere Städte im Regierungsbezirk Arnsberg zusätzlich auf Luise Elias verweisen.

Luise Elias befand sich zudem als Frau in einer Minderheitenposition – nicht nur im Schwerter Stadtrat. Den geschätzt 15.000 männlichen Mandatsträgern in Westfalen und Lippe 1919 standen 119 Mandatsträgerinnen gegenüber – der Anteil lag „deutlich unter 1 Prozent“59 – in Schwerte genau bei 0,6 Prozent.

Angesichts dieser Zahlen ist eine Diskussion darüber, ob Frauen mit dem Wahlrecht in die Männerdomäne kommunalpolitischer Entscheidungen einbrechen konnten, müßig. Dies hatten bereits die Zeitgenossinnen bemerkt, zum Beispiel der Duisburger Frauenausschuss, und ‚wirkliche‘ politische Partizipation auf der Kommunalebene bereits in den 1920er Jahren gefordert.60

Luise Elias war schwer asthmakrank. Sie starb im Oktober 1923.

Dr. Uta C. SChmidt/ frauen/ruhr/geschichte

  1. Vgl. Hildebrand, Anne u.a., Frauen-Geschichte, Schwerte [1997], S. 26-31.
  2. Vgl. Schultze Zumhülsen, Hille, Luise Elias, in: Arbeitskreis Schwerter Frauengeschichte(n) (Hg.), Begegnungen in Schwerte. Autorinnen treffen Künstlerinnen, Schwerte 2009, S. 129; Starke Frauen. Schlaue Köpfe, [o.O., o.J.], S. 32-35.
  3. Vgl. Reininhaus, Winfried, Luise Elias aus Schwerte – Jüdin, Sozialdemokratin und Dichterin. Im Anhang ausgewählte Gesichte der Jahre 1918/18, in: Literatur in Westfalen, Bd. 18, Münster 2021, S. 4570.
  4. Vgl. Göttmann (Hg.), Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe. Die Ortschaften im heutigen Regierungsbezirk Arnsberg, Münster 2016, S. 306 (Dortmund-Wickende), 711, 717 (Schwerte); https://www.geni.com/people/Sally-Elias/60000000084990809011[aufgerufen am 20.9.2022]
  5. Zur Bedeutung von Alexander Haindorf für das jüdische Leben in Westfalen siehe auch https://www.frauenruhrgeschichte.de/frg_biografie/sophie-marks/?projekt
  6. Meldekarte und Sterbeeintrag Stadtarchiv Schwerte. Ich danke an dieser Stelle Kirstin ter Jung für ihre umfangreichen Recherchen im Stadtarchiv, die sie zur Vorbereitung der Nominierung von Luise Elias für FrauenOrte NRW durchgeführt hat.
  7. Beleg zur Wilhelmstrasse in SZ 4.3.1893; Im Schwerter Adressbuch von 1909/10 ist das Geschäft auf der Hüsingstraße 1 belegt. Wann der Umzug stattfand, ist zur Zeit nicht eindeutig zu belegen, vgl. Hagenah, Liselotte, Geschichte der Juden in Schwerte, Schwerte 1988, S. 39. Als Meldeadresse ist für Sally Elias auf der Meldekarte zunächst die Hüsingstraße 4 angegeben und ab 1906 die Hüsingstrasse 1, Auskunft Kirstin ter Jung.
  8. 1895 wurden 9.893, 1905 wurden 13.105 Menschen gezählt, Daten nach: Reininghaus, Wilfried, Schwerte und das mittlere Ruhrtal 1806-1975, in: Stadt Schwerte (Hg.), Schwerte 1397-1997. Eine Stadt im mittleren Ruhrtal und ihre Umland, Essen 1997, S. 355-551, hier S. 427.
  9. Vgl. Reininghaus, Luise Elias, S. 47.
  10. Vgl. Reininghaus, Schwerte, S. 4406f.
  11. Reininghaus, Luise Elias, S. 48.
  12. Rosel Juliane Linner – Journalistin in Schwerte, in: Starke Frauen. Schlaue Köpfe, [o.O., o.J.], S. 44-47.
  13. Vgl. Koblitz, Katja, Zur internationale Verflechtung der deutschen Frauenbewegung, in: Linnemann, Dorothee (Hg.), Damenwahl! 100 Jahre Frauenwahlrecht, Schriften des Historischen Museums Frankfurt Bd. 36, Frankfurt 20018.S. 78-81, hier S. 79.
  14. Koblitz, Zur internationalen Verflechtung, S. 81.
  15. Schwerter Zeitung (SZ) vom 11. Juni 1904 unter zeit.punktNRW https://zeitpunkt.nrw/ulbms/periodical/zoom/24520[aufgerufen am 20.9.2022]
  16. Vgl. SZ passim
  17. Heraushebung durch ucs.
  18. SZ, 18. 9. 1904 unter https://zeitpunkt.nrw/ulbms/periodical/zoom/24548 [aufgerufen am 20.9.2022]
  19. Unter anderen vgl. Koblitz, Zur internationalen Verflechtung.
  20. Vgl. https://www.britannica.com/biography/Mary-Eliza-Church-Terrell[aufgerufen am 20.9.2022]
  21. Helene Lange Archiv, B. Rep. 235-01, Nr. 323. Ich verdanke diese Informationen samt den dazugehörigen Quellen Dayana Lau, die über Alice Salomon forscht, und diese Quellen auf dem Workshop „Feminism is a Battlefield“ am 6./7. Mai 2022 in Leipzig vorgestellt hat. Mein Dank gilt hier Dayana Lau und dem Leipziger Team, das diesen erkenntnisreichen Diskussionszusammenhang zum „Kampffeld Feminismus“ organisiert hat.
  22. Terrell, Mary Church, Die Fortschritte der Farbigen Frau, in: Stritt, Marie, Der Internationale Frauen-Kongreß in Berlin. Bericht mit ausgewählten Referaten, Berlin 1905, S. 567-573.
  23. Oberlin College Archives, Mary Church Terrell Papers, Series II: Correspondence, SubseriesI: Personal Correspondence, Folder: MCT to Robert Terrell, Box: 2.
  24. Reininghaus, Luise Elias, S. 50.
  25. Ebd., S. 51.
  26. Vgl. Ebd., S. 51.
  27. Ebd.
  28. Ebd., S. 50.
  29. Ebd., S. 51 mit Verweis auf Maxwill, Arnold, Die Lyrik in Westfalen während des Ersten Weltkrieges. Eine Hinführung, in: Niederdeutsches Wort 55 (2015), S. 9-34, hier S. 20.
  30. Vgl. ebd., S. 51.
  31. SZ 24.8.1918 unter https://zeitpunkt.nrw/ulbms/periodical/zoom/58294 [aufgerufen am 20.9.2022]
  32. Reininghaus, Luise Elias, S. 51.
  33. SZ 18.11.1919, https://zeitpunkt.nrw/ulbms/periodical/zoom/58857
  34. Wie sehr Luise Elias auf die Erfahungen im Alltag Bezug nahmen siehe https://zeitpunkt.nrw/ulbms/periodical/zoom/58921[aufgerufen am 20.9.2022]
  35. Ebd.
  36. SZ 13.12.1920, https://zeitpunkt.nrw/ulbms/periodical/zoom/60185 [aufgerufen am 20.9.2022]
  37. https://zeitpunkt.nrw/ulbms/periodical/zoom/60648 [aufgerufen am 20.9.2022]
  38. https://zeitpunkt.nrw/ulbms/periodical/zoom/60648 [aufgerufen am 20.9.2022]
  39. https://zeitpunkt.nrw/ulbms/periodical/zoom/64709 [aufgerufen am 20.9.2022]
  40. https://zeitpunkt.nrw/ulbms/periodical/zoom/64709 [aufgerufen am 20.9.2022]
  41. SZ, 10.1.1919.
  42. Vgl. https://www.frauenruhrgeschichte.de/frg_biografie/li-fischer-eckert/
  43. Vgl. Reininghaus, Wilfried, „Darum wählt!“. Die ersten demokratischen Kommunalwahlen in Westfalen und Lippe 1919, S. 52.
  44. Vgl. Zetkin, Clara: Die Arbeiterinnen- und Frauenfrage der Gegenwart, Berlin 1889, S. 7f., siehe auch Clara Zetkin: „Aber die Frauenfrage ist nur innerhalb jener Klassen der Gesellschaft vorhanden, welche selbst Produkte der kapitalistischen Produktionsweise sind … Es gibt eine Frauenfrage für die Frauen des Proletariats, des Mittelbürgertums und der Intelligenz und der oberen Zehntausend; je nach der Klassenlage dieser Schichten nimmt sie eine andere Gestalt an: Zetkin, Clara, Zetkin, Clara, Nur mit der proletarischen Frau wird der Sozialismus siegen, Rede auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zu Gotha (16. Oktober 1896), Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Gotha vom 11. bis 16. Oktober 1896, Berlin 1896, S. 60–168.
  45. SZ, 9.1.1919, https://zeitpunkt.nrw/ulbms/periodical/zoom/58815[aufgerufen am 20.9.2022]
  46. Vgl. Hagenah, Geschichte der Juden, S. 71.
  47. Vgl. ebd., S. 73.
  48. Vgl. ebd., S. 72.
  49. Vgl. ebd, S. 87.
  50. Vgl. ebd., S. 41-46.
  51. https://zeitpunkt.nrw/ulbms/periodical/zoom/58968[aufgerufen am 20.9.2022]
  52. Reininghaus, „Darum wählt!“, S. 29.
  53. Vgl. Reininghaus, „Darum wählt!“, S. 19, 29 ff.
  54. SZ, 13. Februar 1919, https://zeitpunkt.nrw/ulbms/periodical/zoom/58957[aufgerufen am 20.9.2022]
  55. Reininghaus, „Darum wählt!“, S. 31.
  56. Vgl. SZ 5.3.1919, https://zeitpunkt.nrw/ulbms/periodical/zoom/59038[aufgerufen am 20.9.2022]
  57. SZ, 21.3.1919, https://zeitpunkt.nrw/ulbms/periodical/zoom/59129[aufgerufen am 20.9.2022]
  58. Vgl. Reininghaus, Wilfried, „Darum wählt!“, S. 205.
  59. Ebd., S. 205.
  60. Vgl. Doris Freer, Die ersten Stadtverordneten in der Duisburger Stadtverordnetenversammlung von 1919 bis 1933. Eine Standortbestimmung im Kontext der Geschichte der Frauenbewegung, Sonderdruck aus Duisburger Forschungen. Schriftenreihe für Geschichte und Heimatkunde Duisburgs 63, Essen 2021, S. 101–187.
Orte:

Geschäft von Sally Elias auf der Hüsingstraße 1, 58239 Schwerte
Druck- und Verlagshaus der Schwerter Zeitung, Große Marktstraße 1, 58239 Schwerte

Zitation: Schmidt, Uta C., Luise Elias, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/luise-elias/

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