Judith Neuwald-Tasbach / 1959

Erste Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen

„Ich habe mir das so nicht vorgestellt. Der Job ist laut Satzung ehrenamtlich, aber als sie verfasst wurde, hat niemand daran gedacht, dass damit einmal so viel Arbeit verbunden sein könnte!“.1 Als Judith Neuwald-Tasbach im Jahr 2007 für die Repräsentanz der jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen kandidierte, hatte sie weder damit gerechnet, am Ende zur Vorsitzenden gewählt zu werden, noch damit, wie nachhaltig dies ihr Leben verändern würde.

Geboren 1959, hatte Judith Neuwald-Tasbach hatte nach ihrem Abitur Verkehrsbetriebswirtschaft studiert, „Transportwesen, Bereich Personenbeförderung“, und danach in verschiedenen Jobs gearbeitet, „meistens im Bereich der Personenbeförderung oder in der Touristik, später auch einmal bei einem Automobilzulieferer, und schließlich bei einem Automobilclub“. Als Ende der 1990er/Anfang der 2000er-Jahre ihr über 90-jähriger Vater Kurt Neuwald erkrankte, entschloss sie sich, zunächst in Teilzeit zu arbeiten und dann vorübergehend ganz ihren Beruf aufzugeben, um sich um ihn kümmern zu können. Er wohnte in ihrer Heimatstadt Gelsenkirchen, sie zu diesem Zeitpunkt in Sauerland. Schließlich starb der Vater 2001, und eine hochbetagte Verwandte wurde pflegebedürftig, und auch hier übernahm Judith Neuwald-Tasbach die Betreuung.

In der Zwischenzeit wurde sie von der Gelsenkirchenerin Karin Clermont angesprochen, ob sie sich engagieren wolle bei den Planungen zum Bau einer neuen Synagoge in Gelsenkirchen. Neuwald-Tasbachs Vater Kurt war bis 1992 Vorsitzender der jüdischen Gemeinde gewesen. Auf der Trauerfeier nach seinem Tod, an dem auch NRW-Ministerpräsident Wolfgang Clement (SPD) teilnahm, sprach sein Nachfolger Fawek Ostrowiecki (1927–2017) erstmals öffentlich den Wunsch zur Errichtung einer neuen Synagoge aus, denn die alte von 1957/58 platzte nach der Zuwanderung zahlreicher Juden und Jüdinnen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion in den 1990er-Jahren aus allen Nähten. Judith Neuwald-Tasbach engagierte sich nun – obwohl sie weiterhin im Sauerland wohnte – gemeinsam mit Karin Clermont und weiteren Mitstreiter*innen in verschiedenen Gremien in und außerhalb der Gemeinde für die neue Synagoge und wurde später auch offizielle Beauftragte der Gemeinde für den Synagogenbau.2

Aber ihren Beruf dauerhaft aufgeben, dass wollte sie eigentlich nicht. Nach der Fertigstellung und Einweihung der Synagoge im Februar 2007 wollte sie in ihren Beruf zurückkehren. Doch nun trat der bisherige Gemeindevorsitzende Ostrowiecki bei den Gemeindewahlen nicht mehr an – und schließlich ließ sie sich „breitschlagen“. Ihr war schnell klar: „Das ist das Ende meiner beruflichen Pläne – aus dem Grund, weil ich Dinge immer nur ganz machen kann! Ich habe mir gedacht: Wir ziehen jetzt um in ein neues Gebäude und es wird wahnsinnig viel Arbeit sein, das alles einzurichten. Wenn du nebenher noch einen Vollzeitjob hast, wahrscheinlich auch mit vielen Überstunden, dann wird das für dich ganz schwierig, hier richtige Arbeit zu leisten“, erinnert sich Judith Neuwald-Tasbach. Sie übernahm das Amt als erste Frau und blieb über 16 Jahre lang bis Mai 2023 die Gemeindevorsitzende.

Finanziell möglich war dieser Fulltime-Ehrenamts-Job nur, weil sie 2002 geheiratet hatte und ihr Mann berufstätig war. „Mein Mann ist immer mein bester Berater, bis heute, muss ich sagen. Und ich bin dankbar und glücklich, dass er das alles mitträgt“, sagt Judith Neuwald-Tasbach. Eine Arbeitsteilung, die auf den ersten Blick traditionell klingt: er der „Ernährer“, sie ehrenamtlich tätig. Aber dieses Ehrenamt war ein von Verantwortung und Umfang her besonders herausragendes. Sie wurde eine Führungskraft ohne Bezahlung.

Die Herausforderungen waren groß. Mit der Zuwanderung von Juden und Jüdinnen aus den Nachfolgestaaten war die jüdische Gemeinde in Gelsenkirchen, wie viele andere Gemeinden bundesweit, erheblich gewachsen – von gerade einmal 79 Mitgliedern im Jahr 1989 auf 441 im Jahr 2005. Viele der neuen Mitglieder sprachen nur wenig Deutsch und hatten nach der Übersiedlung nach Deutschland beruflich nicht mehr richtig Fuß gefasst. Der Gemeinde verlangte dies einiges an Integrationsleistung ab und sie veränderte sich schließlich auch selbst strukturell von Grund auf, denn die wenigen „alten“ Mitglieder waren nun in der Minderheit.3

In Gelsenkirchen war es dem Engagement von Menschen wie Karin Clermont zu verdanken, die selbst keine Jüdin ist, dass nun die Chance ergriffen wurde, den Jüdinnen und Juden wieder einen sichtbaren Platz in der Stadt zu geben und ausreichend große Räumlichkeiten – was mit dem Bau der Neuen Synagoge inklusive Gemeindezentrum und Büros auch gelang. Schon der Tag der Einweihung der Synagoge zeigte Judith Neuwald-Tasbach, dass die jüdische Gemeinde fortan eine ganz neue Rolle in der Stadt spielen würde: „Wir wurden ja alle am Tag der offenen Tür nach der Einweihung von unglaublich vielen Menschen überrannt. 12.000 Menschen haben an dem Sonntag vor der Tür gestanden und da wurde mir klar, dass unser Leben ein anderes ist. Wir sind aus einem abgeschiedenen Hinterhof direkt in die Öffentlichkeit gekommen, an einen schönen Platz, der viel Bedeutung für uns hat, mit einem wundervollen Gebäude.“

Durch den Neubau war die Gemeinde trotz öffentlicher und privater Unterstützung hochverschuldet und musste jeden Cent umdrehen, wie Neuwald-Tasbach erläutert: „Das war eine ziemlich anstrengende Zeit und manche Nacht habe ich da nicht schlafen können, weil ich immer gedacht habe: ‚Wie wird das weitergehen?‘ Immer mit diesen Engpässen, wir mussten unsere Kredite bedienen, wir haben hier hohe Kosten. Am Anfang haben uns diese Kosten sozusagen erschlagen.“

„Mein Vorgänger im Amt [Fawek Ostrowiecki] hat einmal gesagt: ‚Als Vorsitzende der Gemeinde bist du nicht die Vorsitzende, sondern du bist die Dienerin der Gemeinde.‘ Und das habe ich immer berücksichtigt in meinem Leben, dass ich immer Gleiche unter Gleichen bin. Hier drinnen bin ich eine von vielen und nach draußen habe ich die Aufgabe, die Gemeinde zu vertreten. Aber ich stehe nicht über den Menschen, sondern ich bin hier mit den Menschen und das ist, glaube ich, eine ganz wichtige Erkenntnis für die Arbeit. Das ist wichtig, dass man das verinnerlicht.“

Mit Judith Neuwald-Tasbach wurde eine Frau Vorsitzende der Gemeinde, die auch aufgrund ihres familiären Hintergrunds in der Lage war, die Schnittstelle zu bilden zwischen der sich neu findenden Gemeinde mit Menschen, die sich wenig in den kulturellen und politischen Kontexten auskannten, und der Gelsenkirchener Gesellschaft und Politik. Ihre Eltern waren beide Holocaust-Überlebende.

Der Vater Kurt Neuwald wurde 1906 in eine Gelsenkirchener Kaufmannsfamilie geboren, die bereits seit 1880 ein Bettenfachgeschäft in der Innenstadt führte. Er war dessen Geschäftsführer und Mitinhaber, bevor es durch die Nazis verwüstet und durch die Behörden schließlich „arisiert“ wurde. Er heiratete 1939 die aus Essen stammende Rosa Stern. 1942 wurden er und seine Familie zunächst nach Riga, dann in weitere Lager deportiert. Seine Frau und 23 weitere Familienangehörige überlebten die Shoah nicht. Getrennt von seiner Familie durchlief Kurt einen Leidensweg durch verschiedene Konzentrationslager, er und sein Bruder überlebten schließlich die Zeit der Verfolgung und Vernichtung. Kurt wurde aus einem Außenlager des KZ Buchenwald befreit und kehrte im April 1945 nach Gelsenkirchen zurück.4

Mit anderen gründete er zunächst ein jüdisches Hilfskomitee, dann eine neue jüdische Gemeinde in Gelsenkirchen, deren Synagoge, Schule und weitere Gebäude 1938 während und infolge der antijüdischen Pogrome zerstört worden waren. Von den Juden und Jüdinnen, die 1945, nach der Befreiung, in Gelsenkirchen lebten, war Kurt Neuwald einer der ganz wenigen, der von dort stammte. Die meisten hatte es aus anderen Städten, Regionen oder Ländern nach Gelsenkirchen verschlagen, wo sie im nationalsozialistisch beherrschten Europa verfolgt worden waren, Familie, Freunde und Heimat verloren hatten.5 Darunter auch Cornelia Basch (geb. 1929), eine aus Ungarn deportierte Jüdin, die in einem KZ-Außenlager in einem Hydrierwerk in Gelsenkirchen-Horst Zwangsarbeit leisten musste und hier befreit worden war.6

Kurt Neuwald und Cornelia Basch heirateten, und eine ihrer beiden Töchter war Judith, die 1959 geboren wurde, kurz nachdem die neu gegründete Gemeinde eine kleine Synagoge im Hinterhof eines Gebäudes an der Von-der-Recke-Straße hatte bauen und eröffnen können.7 Etwa 117 Mitglieder hatte die Gemeinde zu diesem Zeitpunkt, doch trotz des Nachwuchses einiger Familien ging die Zahl in den kommenden Jahren immer weiter zurück – durch Wegzug (darunter Auswanderung nach Israel) und durch Überalterung.8

Judith Neuwald-Tasbachs Kindheit war von der Situation der nach der Shoah in Deutschland gebliebenen Juden und Jüdinnen tief geprägt: „Viele waren hier gestrandet, wollten aber ursprünglich gar nicht in Deutschland bleiben, sondern nach Israel. Sie hatten quasi die Koffer gar nicht ausgepackt. Dann kamen die Kinder in den Kindergarten und man verschob die Ausreise, sie kamen in die Schule und man wartete erneut. So schafften viele den Absprung nicht, einige gingen dann doch, wenn die Kinder groß waren, oder die Kinder selbst gingen als junge Erwachsene nach Israel.“ Ein anderer Teil der Juden „war hier fest angekommen und hat auch den Koffer ausgepackt, entschied sich zu bleiben. So war es bei meiner Familie. Das ist ein großer Unterschied in meiner Kindheit gewesen.“ Die Eltern bemühten sich, ihrer Tochter ein Leben mit Freundschaften auch zu nicht-jüdischen Kindern zu ermöglichen, aber das war keineswegs bei allen Gemeindemitgliedern üblich. „Es war immer ein reger Betrieb bei uns zuhause, ich brachte Schulfreunde mit, manchmal kamen auch Eltern zu Besuch. Wie schwierig dies war [gerade einmal 15 bis 20 Jahre nach Kriegsende, S.N.], bekam ich damals zuerst gar nicht mit, habe ich dann aber später begriffen. Meine Eltern mussten ja damit akzeptieren, mit Menschen an einem Tisch zu sitzen, die im Nationalsozialismus im besten Fall geschwiegen haben und passiv waren und im schlimmeren Fall aktiv mitgemacht haben bei der Verfolgung der Juden.“ Andere Gemeindemitglieder blieben entsprechend wesentlich misstrauischer gegenüber ihrer Umgebung, hier durften die Kinder keine Schulfreunde mit nach Hause bringen, sie konnten, so Neuwald-Tasbach, „niemals Normalität im Umgang mit anderen erleben“.9

Die Mutter starb 1969 mit 47 Jahren vermutlich an den Spätfolgen ihrer Deportation, Haft und Zwangsarbeit – Judith war zu dem Zeitpunkt noch keine 10 Jahre alt. Der Vater blieb bis ins hohe Alter Gemeindevorsitzender und engagierte sich auch überregional für die jüdische Gemeinschaft. So war er u. a. von 1963 bis 1994 Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe und gehörte von 1951 bis 1994 dem Direktorium des Zentralrats der Juden in Deutschland an.10 Mit seinem Engagement für die jüdische Gemeinschaft in Judith Neuwald-Tasbach also groß geworden. „Hitler soll nicht im Nachhinein noch Recht bekommen, indem Deutschland ‚judenfrei‘ wird“, so sei seine Überzeugung nach ihrer Erinnerung gewesen. Dieses „Jetzt erst recht“ habe er auch seinen Kindern auf den Lebensweg gegeben.11

Anders als in der Zeit vor der Shoah, als es in Deutschland ein sehr vielfältiges Judentum mit orthodoxen, konservativen und mehrheitlich liberalen Gemeinden gab,12 waren die sehr kleinen Synagogengemeinden der Bundesrepublik bis 1989 überwiegend Gemeinden mit traditionell-orthodoxen Vorstellungen, aber aus pragmatischen Gründen keinen allzu strengen religiösen Vorschriften im Alltag. Man war froh, dass es überhaupt wieder Gemeinden, Synagogen und Gottesdienste gab.

Die Orthodoxie ist auch gegenwärtig noch die überwiegende Strömung innerhalb der in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden, 2021 waren über 90 Prozent traditionell-orthodox ausgerichtet.13 So auch die Gelsenkirchener Gemeinde. In der Neuen Synagoge gibt es daher einen getrennten, aber nicht streng abgeriegelten Sitzbereich für Frauen, die im Rahmen der orthodoxen Gottesdienste keine Funktionen übernehmen dürfen. Gefragt, wie sie als weibliche Gemeindevorsitzende damit umgehe, sagt Judith Neuwald-Tasbach: „Für mich ist es kein Konflikt […] Wenn ich durch die Synagogentür gehe, dann sitze ich hinten bei den Frauen. Und ich sage mir immer: ‚Wichtig ist, dass man in den Herzen der Leute vorne sitzt.‘ Da spielt es keine Rolle, ob ich in der ersten Reihe vorne sitze oder ganz hinten an der Wand. […]  Judentum unterdrückt Frauen nicht, sondern Frauen haben eben keine Aufgabe in der Synagoge im orthodoxen Judentum. Aber wir haben Aufgaben im familiären und sozialen Bereich. Und wenn ich dann durch die Synagogentür wieder hinausgehe, dann bin ich natürlich eine sehr emanzipierte Frau, die sich auch früher schon in einer Männerwelt durchsetzen konnte.“

Judith Neuwald-Tasbach vertrat als einzige Frau im Vorstand ihre Gemeinde im Bund traditioneller Juden in Deutschland e. V. (BtJ), in dem Gemeinden Mitglied werden können, die „sich dem traditionellen Judentum, d. h. der jüdischen Religion und Lehre in ihrer über tausendjährigen Tradition des toratreuen Judentums in Deutschland, verpflichtet fühlen“.14 Knapp 30 Gemeinden wirken darin mit, die alle auch dem Zentralrat der Juden in Deutschland, der wichtigsten jüdischen Dachorganisation, angeschlossen sind. Auch in dessen Direktorium war Neuwald-Tasbach stellvertretende Delegierte für den Landesverband der jüdischen Gemeinden in Westfalen-Lippe.

In den vergangenen Jahren, nach der Einwanderung von Juden und Jüdinnen aus der ehemaligen Sowjetunion, beginnt wieder eine stärkere Ausdifferenzierung innerhalb des deutschen Judentums. So gibt es inzwischen eine Reihe liberal-progressiver Gemeinden, z. B. in Köln, Oberhausen, Unna und Bielefeld, die in der Union progressiver Juden in Deutschland und in einem entsprechenden Landesverband in NRW organisiert sind. Von 2015 bis 2021 amtierte Natalia Vezhbovska für den Verband als Rabbinerin, seit 2022 ist sie Gemeinderabbinerin in Bielefeld und damit eine von über zehn Rabbinerinnen in Deutschland.15

Judith Neuwald-Tasbach sieht dies in keiner Weise dogmatisch: „Im Leben meines Vaters gab es die Vorstellung nicht, dass eine Frau auch eine Rabbinerin sein kann, einfach, weil er es nie gesehen oder gehört hatte, obwohl es auch schon vor dem Dritten Reich Rabbinerinnen gab. Also ich persönlich denke, das Judentum ist eine wunderbare Religion mit so vielen Facetten, und es ist schön, dass auch Frauen Rabbinerinnen werden können oder Vorbeterinnen, Kantorinnen. Ich kenne auch einige und ich denke, es ist gut, dass es auch liberale Gemeinden gibt. Und ich bin auch froh, dass es wieder ganz orthodoxe Gemeinden gibt, die sich sehr intensiv dem Glauben widmen in sehr orthodoxer Hinsicht. Aber ich bin einfach dankbar, dass das Judentum wieder vielfältig ist, denn das ist ja das, was das Dritte Reich endgültig zerstört hat bei uns, es hat nicht nur die Menschen und die Gebäude hinweggenommen, sondern auch die Vielfalt im Judentum und das Wissen um das Judentum. Deshalb freue ich mich, dass wir heute wieder Vielfalt im Judentum haben, wobei meine persönliche Welt das traditionell orthodoxe Judentum ist.“

Die jüdische Gemeinde Gelsenkirchen ist Mitglied im „Interkulturellen Interreligiösen Arbeitskreis Gelsenkirchen“ und sucht darin den Kontakt zu Christ*innen und Muslim*innen. „Wir versuchen, im Interkulturellen Arbeitskreis miteinander die Dinge zu besprechen und mehr Gefühle füreinander zu entwickeln. Ich glaube, letztendlich ist das immer eine Sache des Kennenlernens, wenn man sich kennt, dann werden Vorurteile abgebaut. Es ist der eine einzige Weg zu begreifen, dass wir es nur miteinander schaffen werden“.

Umso mehr hat Judith Neuwald-Tasbach es als Rückschlag empfunden, als am 12. Mai 2021 eine Menge von überwiegend muslimischen Demonstrant*innen, die vorgab, sich mit den Palästinenser*innen in Israel und den besetzen Gebieten zu solidarisieren, vor der Gelsenkirchener Synagoge israel- und judenfeindliche Parolen rief, darunter auch „Juden raus“.16 „Ich habe mich noch nie so schlecht gefühlt in meinem Leben wie nach diesem schrecklichen Aufmarsch. Man muss hart daran arbeiten, dass man wieder Vertrauen fasst und Mut hat weiterzumachen und auch in die Öffentlichkeit zu gehen“, so schaut Judith Neuwald-Tasbach auf diesen Tag zurück.

Generell macht ihr der wachsende Antisemitismus große Sorgen. „Er hat sich verändert, er ist härter geworden, brutaler. Es ist so, dass er sich in den sozialen Netzwerken ausbreitet und manchmal wissen die Menschen gar nicht, warum sie das tun, aber sie tun es und sie begreifen nicht, was sie damit anrichten. Ich glaube, dass jemand, der einmal beschimpft oder angegriffen worden ist als Jude, der wird sein Leben lang ein Trauma haben, weil er sich einfach in einer Eigenschaft angegriffen fühlt, die man nicht ablegen kann. Man kann die Haarfarbe vielleicht verändern, aber man ist Jude und wenn man deshalb beschimpft wird, dann spürt man, dass etwas Grundlegendes in diesem Land nicht funktioniert, nämlich das Grundgesetz, dass uns ja alle schützen soll.“

Zwar werde in Gelsenkirchen viel getan gegen Antisemitismus, besonders in und mit den Schulen. Dennoch sieht sie die Gefahr, dass die antisemitische Stimmung auf Dauer den Schrumpfungsprozess vieler jüdischer Gemeinden verstärken könne. „Wenn die Leute immer Angst haben, von Jugendlichen in der Schule beschimpft zu werden, kommt der Moment, wo man sich nicht mehr als Jude outet, wo man sich von seiner Religion entfernt.“ Aufgrund der demografischen Situation ist in vielen Gemeinden sowieso ein Mitgliederrückgang zu verzeichnen. Nur in großen Städten wie Frankfurt, München, Berlin, Düsseldorf und Köln ist das anders. „Aber Judentum ist eine Religion, die ortsnah gelebt werden muss“, sagt Neuwald-Tasbach. „Ich bin der Meinung, dass man die vielen kleinen Synagogen erhalten muss, um den Menschen vor Ort jüdische Betreuung, jüdisches Leben und jüdischen Spirit zu geben. Das ist ganz wichtig, dass sie hier eine Anlaufstelle haben, sozusagen ihre jüdische Familie, wo sie hingehen können. Das würde ich sehr befürworten, dass man das so lange wie möglich aufrechterhält.“

Es ist also noch viel zu tun, und Judith Neuwald-Tasbach möchte sich auch in Zukunft engagieren – aber ab 2023 nicht mehr als Gemeindevorsitzende.17 Sie wird nicht mehr für dieses Amt kandidieren. Zuvor hat sie jedoch noch eine wichtige strukturelle Veränderung in ihrer Gemeinde auf den Weg gebracht: der oder dem zukünftigen ehrenamtlichen Gemeindevorsitzenden wird endlich ein*e Geschäftsführer*in zur Seite gestellt.

Die 22 Jahre Engagement für die Gemeinde kamen Judith Neuwald-Tasbach in der Rückschau wie 44 vor – eine extrem intensive Zeit, die sie nicht missen möchte. Die Jüdische Gemeinde Gelsenkirchen, aber auch die Gelsenkirchener Stadtgesellschaft hat ihr sehr viel zu verdanken.18

Stefan Nies

  1. Soweit nicht anders angegeben, sind die wörtlichen Zitate in diesem Beitrag einem Interview des Verfassers mit Judith Neuwald-Tasbach am 24.10.2022 entnommen.
  2. Stefan Nies, Die Neue Synagoge und das Gemeindeleben bis zur Gegenwart, in: Stefan Goch/Stefan Nies (Hrsg.), Selbstbehauptung nach dem Holocaust: Die jüdische Gemeinde Gelsenkirchen nach 1945, Essen 2021 (Schriftenreihe des Instituts für Stadtgeschichte – Materialien, 13), S. 126–151.
  3. Nies, Stefan, Neubelebung des Judentums ab 1990, in: Stefan Goch/Stefan Nies (Hrsg.), Selbstbehauptung nach dem Holocaust, S. 107–125, hier insb. S. 123.
  4. Goch, Stefan, Jüdisches Leben – Verfolgung, Mord, Überleben. Ehemalige jüdische Bürgerinnen und Bürger Gelsenkirchens erinnern sich, Essen 2004, S. 98 f.
  5. Nies, Stefan, Juden und Jüdinnen in Gelsenkirchen nach der Befreiung vom Nationalsozialismus, in: Stefan Goch/Stefan Nies (Hrsg.), Selbstbehauptung nach dem Holocaust, S. 49–55.
  6. Biografie siehe: „Von Ungarn über Auschwitz nach Gelsenkirchen: Cornelia Neuwald, geb. Basch (1921–1969)“, Website der jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen, aufgerufen am 6.11.2022.
  7. Nies, Stefan, Der Neubeginn der jüdischen Gemeinde in Gelsenkirchen, in: Stefan Goch/Stefan Nies (Hrsg.), Selbstbehauptung nach dem Holocaust, S. 71–80.
  8. Nies, Stefan, Auf gepackten Koffern? Jüdischer Alltag bis 1989/90, in: Stefan Goch/Stefan Nies (Hrsg.), Selbstbehauptung nach dem Holocaust, S. 81–85.
  9. Die Zitate zur Kindheit stammten aus einem Interview von Stefan Nies, Stefan Goch und Birgit Klein mit Judith Neuwald-Tasbach, 7.12.2016, zitiert nach: Ebenda, S. 81 f.
  10. Kurzbiografie „Engagiert für die jüdische Gemeinschaft: Kurt Neuwald (1906–2001)“ auf der Website der jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen, https://jggelsenkirchen.de/ausstellung/bleiben-oder-gehen/, Stand 7.11.2022.
  11. Sobotka, Heide, Kurt Neuwald – Auf immer Vorbild. Erinnerungen zum hundertsten Geburtstag von Kurt Neuwald, in: Jüdische Allgemeine, 23. November 2006; zit. nach: Nies, Der Neubeginn der jüdischen Gemeinde in Gelsenkirchen, S. 72 f.
  12. Im orthodoxen Judentum ist die Tora „das direkt offenbarte Wort Gottes“. Hingegen versteht das progressiv-liberal ausgerichtete Judentum die Offenbarung als von Gott ausgehenden, aber durch Menschen vermittelten und damit dynamischen und sich verändernden Prozess an. Konservative Juden und Jüdinnen wollen zwar die Traditionen bewahren, sehen aber Anpassungen und Veränderungen in Maßen als notwendig an. Innerhalb dieser drei Hauptrichtungen des Judentums gibt es noch weitere Strömungen, so z. B. ultraorthodoxe Juden und Jüdinnen. (Mediendienst Integration, Zahlen und Fakten: Judentum, aufgerufen am 21.11.2022).
  13. Ahrens, Jehoschua: Orthodoxes Judentum in Deutschland, Beitrag auf Website der Bundeszentrale für politische Bildung, 11.05.2021, aufgerufen am 21.11.2022.
  14. Website des Vereins, aufgerufen am 7.11.2022.
  15. Siehe Website „Allgemeine Rabbinerkonferenz„, aufgerufen am 18.11.2022.
  16. Vgl. Dritter Bericht der Antisemitismusbeauftragten des Landes Nordrhein-Westfalen, Fakten, Projekte, Perspektiven, Berichtszeitraum Januar bis Dezember 2021, [Düsseldorf 2022], S. 15, online: https://www.land.nrw/media/27883/download, aufgerufen am 11.11.2022.
  17. Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 2.9.2022, und Auskunft gegenüber dem Verfasser, 24.10.2022.
  18. Judith Neuwald-Tasbach wurde 2004 mit dem CDU-Bürgerpreis der Stadt Gelsenkirchen, 2013 mit der Ehrenplakette der Stadt Gladbeck und 2016 mit der Bundesverdienstmedaille der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet.
Orte:

Synagoge Gelsenkirchen, Georgstr. 2, 45879 Gelsenkirchen

 

Literatur:

Ahrens, Jehoschua: Orthodoxes Judentum in Deutschland, Beitrag auf Website der Bundeszentrale für politische Bildung, 11.05.2021 https://www.bpb.de/themen/zeit-kulturgeschichte/juedischesleben/329224/orthodoxes-judentum-in-deutschland/, Abruf 21.11.2022
Dritter Bericht der Antisemitismusbeauftragten des Landes Nordrhein-Westfalen, Fakten, Projekte, Perspektiven, Berichtszeitraum Januar bis Dezember 2021, [Düsseldorf 2022], online: https://www.land.nrw/media/27883/download, Abruf 11.11.2022.
Goch, Stefan, Jüdisches Leben – Verfolgung, Mord, Überleben. Ehemalige jüdische Bürgerinnen und Bürger Gelsenkirchens erinnern sich, Essen 2004.
Nies, Stefan, Die Neue Synagoge und das Gemeindeleben bis zur Gegenwart, in: Stefan Goch/Stefan Nies (Hrsg.), Selbstbehauptung nach dem Holocaust: Die jüdische Gemeinde Gelsenkirchen nach 1945, Essen 2021 (Schriftenreihe des Instituts für Stadtgeschichte – Materialien, 13), S. 126–151.
Nies, Stefan, Neubelebung des Judentums ab 1990, in: Stefan Goch/Stefan Nies (Hrsg.), Selbstbehauptung nach dem Holocaust, S. 107–125.
Nies, Stefan, Juden und Jüdinnen in Gelsenkirchen nach der Befreiung vom Nationalsozialismus, in: Stefan Goch/Stefan Nies (Hrsg.), Selbstbehauptung nach dem Holocaust, S. 49–55.
Nies, Stefan, Der Neubeginn der jüdischen Gemeinde in Gelsenkirchen, in: Stefan Goch/Stefan Nies (Hrsg.), Selbstbehauptung nach dem Holocaust, S. 71–80.
Nies, Stefan, Auf gepackten Koffern? Jüdischer Alltag bis 1989/90, in: Stefan Goch/Stefan Nies (Hrsg.), Selbstbehauptung nach dem Holocaust, S. 81–85.
Sobotka, Heide, Kurt Neuwald – Auf immer Vorbild. Erinnerungen zum hundertsten Geburtstag von Kurt Neuwald, in: Jüdische Allgemeine, 23. November 2006.

Zitation: Nies, Stefan, Judith Neuwald-Tasbach, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/judith-neuwald-tasbach/

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