„Mischehe“, „Schutztaufe“, „Zwangsarbeit“ – diese Begriffe deuten einen dramatischen und wechselreichen Kontext bereits an, in dem sich das Leben der in Recklinghausen aufgewachsenen Ruth Eichmann abspielte. Und wenn noch die biografischen Stichworte Ordens-Oberin, Schulreformerin und Geschichtswerkstatt hinzutreten, wird es erst recht spannungsreich.
Ruth Eichmann wurde am 24. Februar 1926 in Münster geboren und wuchs in einer jüdisch geprägten mittelständischen Mehrgenerationen-Familie in Recklinghausen auf. Eine als Köchin gerühmte dominante Großmutter, ein patriotischer Großvater, eine der jüdischen Gemeinde sehr verbundene Mutter und ein katholischer Vater, der in einem Marler Möbelgeschäft arbeitete, bildeten die behütende Umgebung, die recht bald durch die Diskriminierungen der frühen NS-Zeit in Frage gestellt wurde. Ab 1932 besuchte sie, weil der Familie die lokale jüdische „Zwergschule“ nicht ausreichend erschien, eine katholische Volksschule. Als der städtische Schulträger im September 1933 die jüdischen Kinder aus den allgemeinen Schulen verwies, wurde beschlossen, das Kind taufen zu lassen – mit der katholischen Lehrerin als Patin, die wohl sehr besorgt war um die angemessene christliche Erziehung in einer so jüdischen Umgebung. Bezeichnenderweise wurde diese Zeremonie nichtöffentlich in der Sakristei der St. Petruskirche abgehalten.
Doch blieb und steigerte sich für Ruth unter den sich verschärfenden Bedingungen die Position einer Außenseiterin – „ich habe ungeheure Ängste gehabt“, bekannte sie 2004 in einem Interview.1 Was die Großeltern „Risches“ nannten, nahm merklich zu – mit antisemitischen Ausgrenzungen, Schmähungen, Pöbeleien der anderen Schüler*innen, den SA-Horden und ihren blutrünstigen Liedern auf den Straßen. Zwar gaben die „Schutztaufe“ und der ehedem als „Goi“ nicht ganz willkommene Vater nun, erst recht nach dem Inkrafttreten der Nürnberger Gesetze 1935, der Familie einen unerwarteten Schutz. Aber das Gerücht von einer Schule, in der es anders zugehe, brachte die 10-Jährige auf die Idee, in das „Pensionat“ genannte Internat des Ursulinen-Ordens im benachbarten Dorsten zu wechseln; dessen Oberin genehmigte den Übertritt zu Ostern 1936.
Schonraum Kloster-Internat
„Das Leben im Pensionat war streng reguliert, aber es war angstfrei“ und „Endlich war ich wieder Kind unter Kindern“, erinnerte sich Ruth/Johanna Eichmann in ihren Memoiren.2 Die offene Atmosphäre, die sie dort empfand, verband sich bald auch mit diskreten Hinweisen der Lehrerinnen, dass ihre jüdische Herkunft kein Makel und kein Grund zur Scham sei. Die Klöster und ihre Einrichtungen gerieten zwar immer mehr unter den Druck nationalsozialistischer Schikanen, doch in Dorsten wurden weiterhin mehrere jüdische Kinder beschult. Dass unter den Dorstener Ursulinen hochgebildete und weitsichtige Frauen, wie z. B. die mit der Philosophin Edith Stein befreundete Oberin Petra Brüning, tonangebend waren, wird zu dieser klugen Resistenz beigetragen haben.
Die Ereignisse rund um den 9. November 1938 signalisierten sowohl ihrer Familie als auch den Schüler*innen in Dorsten, dass die schon lange verkündeten Nazi-Gewaltakte näher rückten. Die Wege ihrer Verwandten – etwa des Großvaters, ab Anfang 1939 im belgischen Exil und später deportiert und ermordet – müssen hier ausgeklammert werden.3 Doch auch der Schonraum von Kloster und Ursulinenschule schwand; die schon ab 1939 geplante Verstaatlichung der Schule wurde im Sommer 1941 mit Verspätung realisiert, eine „Nazisse“ als Leiterin installiert. Die schwierige Frage, ob eine „halbjüdische“ Schülerin jetzt noch haltbar sei, wurde zunächst vertagt durch einige Monate Landeinsatz bei ostwestfälischen Bauern. Doch im Herbst 1942 erfolgte der Schulverweis und warf die Frage nach Alternativen auf. Ohne klare Pläne absolvierte Ruth Eichmann dann an einer privaten Sprachenschule in Essen (dort wurde nicht nach dem „Ariernachweis“ gefragt) eine neunmonatige Dolmetscherausbildung in Französisch und nahm in der Essener Verwandtschaft auch die damals schon recht deutlichen Nachrichten über Deportationen „nach Osten“ wahr. Sie begab sich arbeitssuchend, eher zufällig einer Freundin folgend, nach Berlin.
Berliner Chaos 1943–1945
Die dortige Deutsche Arbeitsfront (DAF) sah sich für die Arbeitsvermittlung von „Nichtarierinnen“ nicht zuständig, Im „Commissariat général pour les travailleurs français en Allemagne“,4 einer der Pétain-Vichy-Regierung (und der DAF) verbundenen Agentur in der Nähe des Alexanderplatzes, die Zwangs- und Zivilarbeiter*innen betreute, wurde sie jedoch ab Dezember 1943 angestellt; hier ging es um Sozialbetreuung und Kontakte der nach Deutschland Verschleppten zu ihren Familien. In einem von Nonnen geleiteten Wohnheim fand sie Unterkunft und tauchte zugleich ein in die unübersichtliche, bereits von Bombardierungen und partiellem Kontrollverlust gekennzeichnete Großstadt, schloss Freundschaften mit anderen Marginalisierten wie z. B. ukrainischen Zwangsarbeiterinnen, sah lesbische Freundschaften in ihrem Wohnheim, machte ergreifende Theatererfahrungen. Auch ein Berlin-Besuch ihrer Mutter war im Sommer 1944 noch möglich. Doch im September dieses Jahres zerbrach der Schutz der „privilegierten Mischehe“: Martha Eichmann wurde in ein Lager der Organisation Todt in Nordhessen verschleppt und nach der Tochter wurde gesucht. Und auch die Arbeitsstelle beim Commissariat wurde gekündigt – nun waren auch dort „Halbjuden“ nicht mehr tragbar. Einige Wochen lang erprobte Ruth Eichmann das gefährliche „Untertauchen“, aber ihre Netzwerke waren zu labil und sie wollte ihre Freundinnen nicht weiter gefährden. Dann schickte die Deutsche Arbeitsfront sie zwangsverpflichtet in eine Tischlerei in Berlin-Weißensee, wo sie Hilfs- und Büroarbeit leistete. Ein Bunker in der Albrechtstraße, nahe der Weidendammer Brücke, war dann ihr gespenstisch-surrealer Aufenthaltsort der letzten Kriegstage im April 1945, wo sie auch die hysterischen Reaktionen von Nazifrauen auf den Tod Hitlers studieren konnte. Es gelang ihr nach der sowjetischen Eroberung Restberlins, sich zu ihren ukrainischen Freundinnen durchzuschlagen, die über ihre Beziehungen zur Künstler*innen-Bohème um Marianne Hoppe eine Villa in Halensee nutzen konnten.
„Heim“-Weg?
Als Verfolgte konnte Ruth Eichmann einen Passierschein zum Verlassen Berlins erlangen und auf verschlungenen Wegen – über Jüterbog, Leipzig, Erfurt und Bebra – bewegte sie sich nach Westen bis nach Recklinghausen. Nachbarn halfen ihr, die dort empfangene Nachricht zu verarbeiten, dass ein Paul Eichmann nun (von den Amerikanern ernannter) „Oberbürgermeister von Marl“ sei, und da in den letzten Kriegswochen auch Ruths Mutter aus der Zwangsarbeit befreit worden war, erlebte sie die Wiedervereinigung der Familie in Marl.
Was tun mit der abgebrochenen Schulausbildung? Weil die Neubelebung der Dorstener Ursulinenschule sich zu lange hinzog, besuchte sie einen sogenannten Förderkurs an einer Recklinghäuser Oberschule und legte im Oktober 1946 ihre Abiturprüfung ab. Übrigens nicht ohne Widerstände: die auf ihrem bisherigen Weg recht selbstbewusst gewordene junge Frau eckte bei den Lehrer*innen durchaus, auch politisch, an. Auf dem Zeugnis fand sich die Notiz „Ruth Eichmann will Journalistin werden.“
„ich vagabundierte…“
Schon zum Wintersemester desselben Jahres schrieb sie sich für die Fächer Publizistik und Romanistik an der Universität Münster ein und „vagabundierte durch verschiedene Fakultäten auf der Suche nach einem Faszinosum“, wie sie rückblickend vermerkte. So etwas fand sie dann eher bei den Philosophen und Germanisten, z. B. bei den Professoren Joachim Ritter und Benno von Wiese.5 1948 konnte sie ein Stipendium für ein Studienjahr in Toulouse/Frankreich erhalten; sie schaffte es auch, ungeachtet der eben erst beendeten Kriegs- und Besatzungserfahrungen, bei einer französischen Familie unterzukommen. Eine notdürftig möblierte und geheizte Garage wurde ihr asketisches Zuhause für dieses Jahr voll neuer Erfahrungen und Eindrücke in Frankreichs Süden. Ihr Staatsexamen legte sie dann Anfang 1952 in Münster ab.
„den Nonnenhut!“
Als sei es das Selbstverständlichste, verkündete Ruth Eichmann in diesem Frühjahr 1952 ihren Willen, dem Orden der Ursulinen in Dorsten beizutreten. Es war für ihre Eltern eine schockierende Wende, weil dies angesichts der damaligen Ordensregeln eine radikale Reduktion von Kontakten bedeutete; und auch andere Wegbegleiter*innen wunderten sich, dass sie nicht eher eine Promotion anstrebte. Attraktive Lockrufe ihrer nach Brasilien geretteten Verwandten konnten an dieser Entschlossenheit nichts ändern. Ihre Motive für diese Entscheidung waren wohl eine enorme Dankbarkeit gegenüber der Gemeinschaft der Ursulinen, aber auch die erfahrungsgesättigte Aussicht, an diesem Ort ihre jüdisch-christliche „Zwischenidentität“ entwickeln und leben zu können.6
Der Orden – damals noch charakterisiert durch eine Hierarchie von „Laienschwestern“ und „Chorschwestern“ – nahm sie am 1. November 1952 auf und verlieh ihr den neuen Namen „Schwester Johanna“. Abgesehen davon, dass die junge Frau diesen Schritt als Rückkehr in eine klare Zugehörigkeit empfand, glitt sie schnell in neue Rollen hinein, indem sie an den beiden vom Orden getragenen Schulen (Gymnasium und Realschule) Unterricht erteilte und pädagogische Aufgaben außerhalb des Unterrichts übernahm. Übrigens war sie zu diesem Zeitpunkt nicht die einzige „Exotin“ im 60-köpfigen Konvent, war doch bereits zwei Jahre zuvor die Künstlerin Tisa von der Schulenburg nach einem weltläufigen Bohème-Leben und zwei Ehen hier als Kunsterzieherin Schwester Paula eingezogen.
Seit Mitte der 1950er-Jahre und verstärkt mit dem II. Vatikanischen Konzil (1962–1965) wurden der Katholizismus und auch die Ordensgemeinschaft der Ursulinen von großen Modernisierungswellen durchgeschüttelt – in der Sprache des Vatikans ein „aggiornamento“. Die Neuerungen – weniger Hierarchie, mehr Hinwendung zur „Welt“, Reform der anachronistischen Ordenskleidung, Abschaffung der „Klassengesellschaft“ von dienenden und lehrenden Schwestern – wurden in Dorsten und auch von Schwester Johanna bejaht, ja als Rückkehr zu den eigentlichen Intentionen dieses Ordens angesehen, die mit der bisherigen nicht nur räumlichen, sondern auch „geistigen Klausur“ unvereinbar schienen. Die ursprünglich innerweltliche Laiengemeinschaft habe sich von kirchlichen Mächten wie dem Jesuitenorden zu Lebensformen drängen lassen, die die ursulinischen Gründungsabsichten – u. a. die einer umfassenden Mädchenbildung und einer Synthese von Aktion und Kontemplation – einschränkten.7 Die damalige Dorstener Oberin, die bald zur engen Freundin von Johanna Eichmann wurde, konnte als Beraterin am Konzil in Rom teilnehmen und die öffnenden Entwicklungen vorantreiben. Übrigens wagte dieses Konzil auch erste vorsichtige Revisionen der traditionellen katholischen Judenfeindschaft.8
Schule als Lebensaufgabe
Im Frühjahr 1964, als die Ordensschwestern noch entscheidend den Unterricht prägten, wurde die damals 38-Jährige überraschend zur Leiterin des Gymnasiums bestimmt. Sie fügte sich dem erwarteten Gehorsam, sollte jedoch bald unerwartete Schussfolgerungen ziehen, die zum zunächst abwertend gemeinten, später aber von ihr als Ehrentitel verstandenen Etikett „rote Johanna“ führten. Diese Etikettierung ist nur aus den bildungspolitisch überhitzten 1960er- und 1970er-Jahren zu verstehen – eigentlich ging es hier lediglich um pädagogische Neuerungen, die in der Luft lagen und wenige Jahre später quasi zum schulischen Allgemeingut wurden. Die insgesamt nicht erst seit 1968 in Bewegung geratende Gesellschaft ließ die Rufe nach Schulreformen allmählich lauter werden. Und die neue Direktorin, damals möglicherweise die jüngste Schulleiterin in ganz Nordrhein-Westfalen, wagte probierende Reformen: Dazu gehörten die Auflösung der Klassenverbände in der Oberstufe, eine partiell freie Fächerwahl und viele Arbeitsgemeinschaften, mehr Schülermitbestimmung, Förderung des Übergangs von der Realschule zum Gymnasium. Der Status der „Privatschule“ machte es möglich, mit solchen Experimenten lange vor den allgemeinen Schul- und Oberstufenreformen Ernst zu machen. Die im konservativ-katholischen Bürgertum der Stadt sehr umstrittene Öffnung der Mädchenschule für Jungen war ein weiterer revolutionärer Schritt.9 Auch in diesen Fragen dürfte Johanna Eichmanns immer wieder durchgearbeitete Rückbesinnung auf die autonomen Intentionen der Ordens-Gründungszeit beflügelnd gewirkt haben: „Ursulinen erziehen anders!“10
„Ich habe nie aufgehört, Jüdin zu sein“
Schon seit Mitte der 1960er-Jahre befasste sich Johanna Eichmann mit dem jüdisch-christlichen Dialog, auch inspiriert durch die päpstliche Enzyklika „Nostra aetate“ von 1965. Debatten mit Rabbiner Robert Raphael Geis, Tagungskontakte und eine erste Studienreise nach Oświęcim/Auschwitz, wo im August 1943 ihr geliebter Großvater ermordet worden war, waren erste Stationen eines von ihr als „Rückkehr zu den Wurzeln“ bezeichneten Weges. 1983, mit einer Ausstellung der ein Jahr zuvor gestarteten Geschichtswerkstatt „Dorsten unterm Hakenkreuz“, erfuhr sie den Anstoß zu einer intensiveren Auseinandersetzung. Sie wurde aktives Mitglied dieser kleinen, zunächst sehr misstrauisch beäugten Gruppe, die insgesamt fünf Bände zur jüdischen Lokalgeschichte der Nazizeit sowie zur lokalen Vor- und Nachkriegszeit publizierte. Der Beitritt der strengen Schulleiterin und hochgeachteten „Honoratiorin“ dürfte damals erheblich zum Abbau von Vorurteilen gegen die „Nestbeschmutzer*innen“ beigetragen haben. Und für sie wurde dieser Arbeits- und Freundeskreis zum Rahmen einer langen Selbstbesinnung, die ab 1988 auch ganz demonstrativ, in Zeitungsinterviews etc., eine Präsentation ihrer Doppel-Identität erlaubte.
Weitere Forschungen, Vorträge und Wanderausstellungen, Kontakte zu jüdischen Überlebenden in Israel und den USA führten in diesem Kreis zum nächsten Projekt: der Idee nämlich, ein kleines Dokumentationszentrum zur jüdischen Lokalgeschichte zu errichten. Bis zur Eröffnung und Etablierung des Jüdischen Museums Westfalen dauerte es dann noch einige Jahre, doch der 1987 gegründete Verein erfuhr nun so viel Unterstützung aus Lokal-, Regional- und Landespolitik sowie der Wissenschaft, dass 1991/92 ein Gebäude aus den 1890er-Jahren renoviert und im Juni 1992 eröffnet werden konnte. Die 1991 pensionierte Schulleiterin Johanna Eichmann übernahm die ehrenamtliche Museumsleitung und übte dieses Amt – gestützt von einem großen Team Freiwilliger – 14 Jahre lang aus. Dies war nicht nur eine dekorative Rolle – vielmehr leitete sie das gesamte Veranstaltungsprogramm, arbeitete am Lobbying und der Vernetzung der neuen Institution so erfolgreich, dass schon vor ihrem Ausscheiden eine allmähliche, aber deutliche Professionalisierung und Qualifizierung möglich wurde. Sichtbarstes Zeichen dieser Weiterentwicklung war ein 2001 eröffneter Neubau, in dem eine von Johanna Eichmann mitkonzipierte neue Dauerausstellung Platz fand, die endlich auch den anfangs etwas kühnen Anspruch erfüllte, die jüdische Geschichte Westfalens zu präsentieren. Die Funktion dieses Hauses, den während der Naziherrschaft in alle Welt Vertriebenen und ihren Familien einen Anknüpfungspunkt zum neuen Deutschland zu geben, war ihr überaus wichtig. Doch trotz dieser unbezweifelbaren Bezüge blieb ihr programmatisches Motto, wie sie 2003 in der Museumszeitung schrieb: „Im Blick von heute hat die Phase der Zerstörung jedoch nicht das letzte Wort.“
Themen ihrer publizistischen und Bildungsaktivitäten blieben der jüdisch-christliche Dialog, aber ebenso die Rolle jüdischer Frauen, die NS-Politik gegenüber den „Mischehen“, die Historie und die Wandlungen jüdischer Traditionen und Rituale. Als Zeitzeugin konnte sie nun ihre Familiengeschichte in Schulen, Volkshochschulen, Akademien, aber auch in muslimischen Gemeinden der Region vorstellen.
Frauen: Autonomie und Macht
Es ist unübersehbar, dass Johanna Eichmanns seit den 1980er-Jahren geführte Auseinandersetzungen mit den jüdischen Traditionen auch ein Ringen um die eigene Identität bedeutete. Weibliche Autonomie war dabei eines ihrer subkutanen Themen – nicht nur in der Wiederentdeckung ursulinischer Freiheiten in der Ordenstradition oder in der weiblich dominierten Museums-Gründungsgruppe, sondern auch im Judentum. So äußerte sie in einem Aufsatz 1996:
„Man wird der Stellung der Frau im traditionellen Judentum nur gerecht, wenn man sich die Hochachtung vor Augen hält, die ihr als Ehefrau und Mutter erwiesen wird. Gegenüber dem Mann als ‚Kult- und Kulturträger‘ mag sie zwar nach außen hin als Unter- bzw. Nachgeordnete erscheinen, tatsächlich ist aber sie die ‚Erschafferin, Gestalterin und Hüterin des jüdischen Heimes‘. Sie ist dessen Mittelpunkt schlechthin. Das Zentrum des jüdischen Lebens ist ja nicht die Synagoge, in der die Männer in der Regel das Sagen haben; das Zentrum des jüdischen Lebens ist das jüdische Haus, in dem die Frau das Sagen hat. Sie bestimmt die geistige Richtung der Familie, von ihr lernen die Kinder die ‚primären Prinzipien des Judentums‘; von ihr hängt es ab, ob das Haus ein jüdisches Zuhause ist, ob Jüdischkeit das Leben in der Familie prägt.“ 11
Solch zurückgewonnenes jüdisches Selbstbewusstsein, das im oft von Johanna Eichmann zitierten Titelmotto „Unser Rüthchen bleibt ein Jüdchen“, einem Ausspruch ihrer Großmutter, deutlich wird, machte es auch möglich, dass sie einzelnen jungen Frauen aus der Gruppe der „Kontingentflüchtlinge“ in den 1990er-Jahren informellen jüdischen Religionsunterricht erteilte.
Parallel dazu – von 1995 bis 2007 – bekleidete sie das Amt der Oberin des Dorstener Ursulinenkonvents. Viele Auszeichnungen – darunter die Ehrenbürgerschaften der Stadt Dorsten und des Vestischen Kreises Recklinghausen – erreichten sie. Besonders erfreut war sie über die Verleihung der Dr. Ruer-Medaille der Jüdischen Gemeinde Bochum-Herne-Hattingen, weil sie sich damit auch von jüdischer Seite „angenommen“ sah.
Johanna Eichmann verstarb am 23. Dezember 2019 in Dorsten; die Stadtgesellschaft bereitete ihr einen würdigen Abschied an ihren wichtigsten Wirkungsstätten Kloster, Ursulinenschule und Museum. Die Bildungs-Initiative „Zweitzeugen“12 bemüht sich um die anhaltende Vermittlung ihrer Lebenserfahrungen.
Dr. Norbert Reichling
Transparenz-Hinweis: Der Autor arbeitete 10 Jahre lang mit Johanna Eichmann im Trägervereins-Vorstand des Jüdischen Museums Westfalen zusammen.
- Eichmann, Johanna, Ein Statement über Heimat (2004), https://www.youtube.com/watch?v=v4ylnR2rxw0 (aufgerufen am 20.11.2022).
- Eichmann, Johanna, „Du nix Jude, du blond, du deutsch“. Erinnerungen 1926-1952, Essen 2011, S. 27 – Soweit nicht anders vermerkt, folgt diese Darstellung weitgehend diesen Erinnerungen sowie ihrem Lebensbericht in einem Interview vom 7.11.2003 (geführt von Marc von Miquel im Auftrag des Geschichtsorts Villa ten Hompel – Archiv des Jüdischen Museums Westfalen).
- Sie sind in den genannten Memoiren nachzulesen sowie in: Eichmann, Johanna, Ein jüdisches Schicksal zwischen Deutschland und Auschwitz. Kaddisch für meinen Großvater, Bochum 1992.
- Die Bezeichnung ist von J. Eichmann übernommen. Wahrscheinlich lautet die exakte Benennung „Commissariat général à la main-d’œuvre française en Allemagne“ bzw. ab 1944 „Commissariat général à l’action sociale pour les Français travaillant en Allemagne (CGASFTA).“ Vgl. hierzu die Website http://www.deuframat.de/konflikte/krieg-und-aussoehnung/franzoesische-zwangsarbeiter-in-deutschland-1940-45/repression-kontrolle-betreuung.html (aufgerufen am 20.11.2022). Die von ausgewiesenen Kollaborateuren geleitete Institution und ihre zeitweise fast 1.000 Beschäftigten (darunter gefangene französische Offiziere) hatte fünf Zweigstellen im Reichsgebiet.
- Eichmann, Du nix Jude, S. 105 f.
- Vgl. Heimatsucher e.V. (Hrsg.), Schwester Johanna. Interview vom 1.3.2014, o. O. o. J., S. 29 f.; Eichmann, Johanna, Die rote Johanna. Erinnerungen 1952-2012, Essen 2013, S. 38 f.
- Vgl. Eichmann, Johanna: Die Erziehungsweisheit der hl. Angela Merici, Gründerin der Gesellschaft der hl. Ursula, und das erzieherische Wirken der Ursulinen. Ein geschichtlicher Rückblick, in: Föderation deutschsprachiger Ursulinen (Hrsg.): 450 Jahre Ursulinen, Werl 1985, S. 33–40, hier S. 38 ff.
- Eichmann, Rote Johanna, S. 40 ff.
- Eichmann, Rote Johanna S. 86 ff.
- Eichmann, Rote Johanna S. 61.
- Eichmann, Johanna, „Alles, was Sara dir sagt, das tu!“ (Gen. 21,12) Die Stellung der Frau im Judentum, in: Pomoerium. Studia et commentarii ad orbem classicum spectantia, Nr. 2/1996, S. 71–81 (Zitat: S. 80), https://pomoerium.com/pomoer/pomoer2/eichman1.pdf (aufgerufen am 20.11.2022).
- https://zweitzeugen.de/zeitzeuginnen/ueberlebensgeschichten (aufgerufen am 20.11.2022).
Ursulinenkloster und Gymnasium St. Ursula, Ursula-Str. 8-12, 46282 Dorsten
Jüdisches Museum Westfalen, Julius Ambrunn-Str. 1, 46282 Dorsten
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