Hedwig Kurig ist unter Frauen in einem katholischen Elternhaus groß geworden. Ihr Vater, Angestellter auf der Gelsenkirchener Zeche Nordstern, starb, als sie keine drei Jahre alt war. Die Großmutter war fortan für die Erziehung verantwortlich, die Mutter Katrina für das Einkommen, da die Rente in Höhe von 25 Mark mühevoll durch den Beruf der Briefträgerin aufgebessert werden musste. Hedwig Kurig besuchte nach sieben Jahre Volksschule eine in unmittelbarer Nachbarschaft der großmütterlichen Wohnung eröffnete Handelsschule, die sie 1927 erfolgreich abschließen konnte.
„Weil ich so schwache Lungen und Bronchien hatte“, wurde sie bereits während ihrer Schulzeit in Gelsenkirchen zur Kur nach Mittelberg geschickt. Und ihrer schwachen Konstitution wegen konnte sie für lange Zeit auch keiner Arbeit nachgehen. Die Mutter erhielt eine Halbwaisenrente für Hedwig, die allerdings 1933 gestrichen wurde, so dass die junge Frau nun unbedingt etwas hinzuverdienen musste, was in dieser Zeit der hohen Arbeitslosigkeit fast unmöglich war. Sie beantragte daher bei der Stadt Gelsenkirchen eine Unterstützung. Da sie dank ihrer Ausbildung versiert im Maschineschreiben und Stenografieren war, wurde ihr eine Ferienvertretung in der Gelsenkirchener Stadtverwaltung angeboten. Endlich konnte sie ins eigene Berufsleben starten und erhielt 1936 sogar eine Festanstellung als Stenotypistin beim Arbeitsamt Gelsenkirchen. Hier wurde sie Vorzimmerdame und Telefonistin, unter anderem bei dem „Treuhänder der Arbeit“ Herrn Dr. Manach, der gemäß der NS-Vorstellungen sowohl über die Tarif- und Betriebsordnungen entscheiden als auch in Streitfällen zu schlichten hatte. Wenn Hedwig Kurig in ihren Erinnerungen schreibt: „Für eine geheime Abteilung wurde ich extra noch vereidigt“, fragt man sich beim Lesen, was genau damit gemeint sein mag. Alle Arbeitsämter im Nationalsozialismus waren organisatorisch am Einsatz der ZwangsarbeiterInnen beteiligt. Hatte auch sie damit zu tun? Da Kurig auf ihre Rolle beziehungsweise ihre Tätigkeit zwischen 1933 und 1945 nirgends näher eingeht, muss man es jedoch bei dieser Frage belassen. Sie hat noch in ihrem Rückblick 1990 die These der Kollektivschuld abgelehnt und etwas arg naiv die Frage formuliert „Was wusste ich, wer schuld hatte?“
In den 1940er Jahren hätte Hedwig Kurig gerne Volkswirtschaft und Wirtschaftswissenschaft studiert. Sie besuchte daher berufsbegleitend eine Abendschule in Essen. Aufgrund der kriegsbedingt zusammenbrechenden Infrastruktur und ihres durch Mangelernährung schlechter gewordenen Gesundheitszustandes konnte sie diese nicht zum Abschluss bringen. Unmittelbar nach dem Krieg wurde ihre Anfrage nach einem Studienplatz von der Universität zu Köln mit Verweis auf die rückkehrenden jungen Soldaten abschlägig beschieden: Der im Krieg in allen Fächern rasant gestiegene Anteil weiblicher Studenten wurde umgehend mit der Wiedereröffnung der Universitäten zugunsten der Männer rückgängig gemacht. Für die Historikerin Karin Hausen eine erstaunliche Tatsache, „dass seit 1945/46 die Universitäten ohne größere Konflikte als Männerdomäne wieder restauriert werden konnten. Man startete an den deutschen Universitäten mit altgewohnten Sprach- und Denkmustern in die Nachkriegs- und Nach-NS-Zeit.“ Almut Leh interviewte in den 1980er Jahren dreizehn Gewerkschafterinnen und kam kollektivbiografisch zu der Erkenntnis: Sie alle mussten aufgrund der geschlechterspezifischen Ordnung des Hochschulwesens „hinter ihren Wünschen und Fähigkeiten zurückbleiben“.
Die Gewerkschaft wurde dann für Hedwig Kurig und viele andere Frauen der Ort, Bildungsbedürfnisse zu stillen. Ihren ersten Kontakt dorthin bekam sie 1946 bei einem ÖTV-Vortrag im Arbeitsamt Gelsenkirchen. Kurz darauf wurde sie mangels genauer Kenntnis zuerst Frauenleiterin bei der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG), für die sie vom 21. bis zum 23. August 1946 an einem Gewerkschaftskongress der britischen Zone im Speisesaal der Bielefelder Oetker-Werke teilnahm. Wahrscheinlich dort wurde sie daraufhin angesprochen, dass sie doch kein Mitglied des „Stehkragenproletariats“ und ergo in der falschen Gewerkschaft sei. Sie wechselte daraufhin in die Gewerkschaft öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÄTV), für die sie innerhalb des Arbeitsamtes Mitglieder anwarb, anfänglich wohl in scharfer Konkurrenz mit den Kollegen von der DAG. In ihren Aufzeichnungen beschreibt sie, wie sie 1946 zuerst gemeinsam mit Alfred Schwarz, dem damaligen Geschäftsleiter der ÖTV Gelsenkirchen, in der Textilindustrie Haustarifverträge abschließen konnte. „Die Leute hatten einen Stundenlohn von 50 Pfennig im Akkord!“ Innerhalb kürzester Zeit initiierte Kurig bei den im DGB zusammengeschlossenen 16 Industriegewerkschaften Gelsenkirchens die Gründung von Frauenausschüssen und wurde bald Vorsitzende des DGB-Frauenausschusses in Gelsenkirchen, zudem Vorsitzende des ÖTV- Kreisfrauenausschusses für Gelsenkirchen, Buer, Gladbeck und Bottrop. Diese bereits in der organisatorischen Aufbauphase des DGB zwischen 1945 und 1949 gegründeten örtlichen Frauenausschüsse wurden mit Gründung des Deutschen Gewerkschaftsbundes 1949 offiziell anerkannt und mit der Schaffung von Frauensekretariaten und -ausschüssen auf allen Organisationsebenen sowie der Abteilung Frauen beim Bundesvorstand ergänzt. Kurig wurde zudem Mitglied des Beirats der ÖTV, des zwischen den Gewerkschaftstagen höchsten Legislaturorgans der Gewerkschaft, und vertrat für die ÖTV als erste Frau im Bezirkspersonalrat des Arbeitsamtsbezirks Nordrhein-Westfalens die Gruppe der Angestellten.
Die Gewerkschaft schlug Hedwig Kurig für ein Seminar in Wiltonpark vor. Im Herbst 1947 konnte sie dort sieben Wochen an einem Akademieprogramm teilnehmen. Diese Einrichtung, im Januar 1946 zunächst für deutsche Kriegsgefangene als demokratisches Umerziehungsprogramm eingerichtet, öffnete ab 1947 ihr Schulungsprogramm auch für deutsche Zivilisten aus der britischen Zone. So nahmen vor allem Männer, aber auch Frauen des öffentlichen Lebens, also Journalisten, Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre oder Pädagogen an den mehrwöchigen Kursen teil. Der bekannteste Seminarist ist vielleicht Ralf Dahrendorf. Die Einladung durfte als Auszeichnung angesehen werden.
Als Hedwig Kurig begann, in zahlreichen Betrieben zu den dort beschäftigten Frauen zu sprechen, blies ihr ein scharfer Wind entgegen, da sie selbst von den Betriebsräten nicht willkommen geheißen wurde, vielmehr haben diese „alles abgesperrt, auch das Licht …“. Zudem muss es zu Beginn des öfteren harte Auseinandersetzungen mit den Kommunisten gegeben haben und die „Diskussionen mit ihnen rissen nicht ab.“ Im Rückblick hat sie ihr gewerkschaftliches Engagement, das immer ehrenamtlich war, als Stoß ins kalte Wasser bezeichnet, da sie wenig Vorkenntnisse besaß und sich ihr Wissen über ArbeiternehmerInnenrechte in ihrer Freizeit eigenständig aneignen musste. Hans Böckler (1875-1951), den ersten Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), bezeichnete sie einmal als ihren Lehrmeister. Und er schien viel von ihr gehalten zu haben, war er es doch, der ihr vorschlug, sich als DGB-Vertreterin in den Wirtschaftsrat wählen zu lassen. Die Mitarbeit in diesem hochrangigen Nachkriegsgremium, das bis zu Konstituierung des Deutschen Bundestages am 7. September 1949 bestand und in dem PolitikerInnen wie Maria Niggemeyer und Ludwig Erhard saßen, lehnte sie ab. „Da fühlte ich mich überfordert.“ Außerdem wollte sie am Ort bleiben, weil sie für Mutter und Bruder zu sorgen hatte.
Bei ihrer Arbeit ging es ihr vor allem um Gleichberechtigung, darum, dass „die Frauen alle Berufe ergreifen“ konnten „und die gleiche Ausbildung bekommen.“ Sie rief die Frauen zur Mitarbeit in den Gewerkschaften auf, um das Ziel „gleiche Leistung und gleicher Lohn“ zu erreichen. Doch ihr war klar: “Ohne Kampf wird es nicht abgehen.“ Wobei sie die Mehrzahl der Frauen als allzu passiv empfand, bedingt durch deren jahrelange Rollenzuweisung im Nationalsozialismus und durch die restaurativen familienpolitischen Tendenzen der Adenauerära : „Ist die Frau sehr kritisch? Zum großen Teil ist sie es nicht mehr, sie ist apathisch.“ Später schienen ihr die Gewerkschafterinnen zum Kämpfen wohlstandbedingt schlichtweg zu faul zu sein. Zudem beklagte sie die mangelnde Solidarität der Männer gegenüber den Anliegen der Kolleginnen: “Wenn uns unsere Kollegen in den Betrieben und Verwaltungen doch etwas mithelfen würden.“ Doch die Interessen der Kolleginnen wurden in allen Gewerkschaften von den meisten Männern wenig ernst genommen. Karin Derichs-Kunstmann hat dies für die von ihr befragten DGB-Gewerkschafterinnen für den Zeitraum zwischen 1949 und 1960 wie folgt zusammen gefasst: „Den Widerspruch zwischen dem postulierten Gleichberechtigungsanspruch der gewerkschaftlichen Frauenpolitik und dem sich in der Ignoranz und der Herablassung der Männer niederschlagenden real existierenden Patriarchat musste von ihnen in ihrer täglichen Praxis ausgehalten werden.“
1950 trat Hedwig Kurig mit starken Vorbehalten in die SPD ein, die im katholischen Milieu noch lange als atheistisch und daher nicht wählbar galt. So erklärte der katholische Bischof von Münster, Michael Keller, 1957: „Es bleibt die Feststellung, dass zwischen dem gesellschaftlichen Ordnungsbild, wie es die SPD vertritt, und dem christlichen Ordnungsbild so wesentliche Unterschiede bestehen, dass wir Ersteres ablehnen müssen. … Es ist unmöglich, gleichzeitig ein guter Katholik und ein wirklicher Sozialist zu sein.“ Ihr inneres Ringen zwischen Religion und Partei teilte die im katholischen Milieu aufgewachsene Hedwig Kurig mit Helene Wessel, der aus Dortmund-Hörde stammenden „Mutter“ des Grundgesetzes, die schrieb: „Ich glaube auch, dass ich meinen Entschluß vor meinem Herrgott verantworten kann.“
Hedwig Kurig hatte die Bundestagsabgeordnete zwei Mal nach Gelsenkirchen eingeladen, wo sie bei den jährlichen „Frauen-Veranstaltungen“ über „Die Familie als Bestandteil des Volkes und ihre Gefährdung“ (1954) und über „Die Verantwortung der Frau und die Aufgaben der Zeit“ (1958) sprach. Zu den von Kurig mitorganisierten Tagungen gehörte immer auch ein kulturelles Rahmenprogramm, wobei diese Veranstaltungen vor allem der (Fort-)Bildung dienten, da es Kurig nicht lag, sich „um nebensächliche Dinge“ wie Kaffeekränzchen zu kümmern. So ging es zum Beispiel bei einer Tagung 1948 um „Die Mitarbeit der Frau in der Gewerkschaft“,„Bildungsfragen für die weibliche Jugend“ und „Allgemeiner Arbeitsschutz für Frauen“. Wenigstens der Abschluss wurde im Programm als „gemütlicher“ Teil in Aussicht gestellt. Ihre eigenen Vorträge verfasste sie abends Zuhause und schickte dafür dann auch schon mal ihre Mutter ins Bett, wenn sie deren Stricknadeln beim Denken störten.
Da zu dem klassischen Aufgabenrepertoire der Gewerkschafterinnen die Werbung neuer Mitglieder, Umsetzung der DGB-Forderungen für berufstätige Frauen, Bildung und Schulung der weiblichen Mitglieder und die Zusammenarbeit mit Frauenorganisationen gehörte, bot Hedwig Kurig neben Tagungen auch Betriebsbesichtigungen, Wochenendschulungen und Exkursionen an, wie zum Beispiel eine Fahrt zur Arbeiterhochschule nach Brüssel, die mit 40 Teilnehmerinnen großen Anklang fand. Dass der Anteil der weiblichen Mitglieder bei der ÖTV zwischen 1951 und 2000 von 15,1 auf 46,2 % angewachsen ist, ist genau einem solchen Engagement wie dem von Hedwig Kurig zu verdanken.
Ihr Fazit lautete: „Ich war immer stolz darauf, Gewerkschafterin zu sein.“
Susanne Abeck / Marianne Kaiser / frauen/ruhr/geschichte
Saal des Hans-Sachs-Hauses, wo viele der von Hedwig Kurig organisierten Veranstaltungen stattgefunden haben.
Agentur für Arbeit, früher Arbeitsamt, Vattmannstr. 12, Gelsenkirchen, wo Hedwig Kurig bis 1972 ihren Arbeitsplatz hatte.
Die Zitate sind dem schriftlichen Nachlass von Hedwig Kurig entnommen, der sich im Privatarchiv von Dr. Marianne Kaiser, Gelsenkirchen, befindet. Viele Zitate finden sich in dem sechseinhalbseitigen „Lebensweg der Hedwig Kurig“, den sie selbst ohne genaue Datierung, wahrscheinlich Ende der 1980er Jahre, verfasst hat.
Blaschke, Sabine, Frauen in Gewerkschaften. Zur Situation in Österreich und Deutschland aus organisationssoziologischer Perspektive, München 2008.
Derichs-Kunstmann, Karin, Die Quote allein genügt nicht. Zu Geschichte und Perspektiven gewerkschaftlicher Frauenpolitik. In: Jahrbuch Arbeit, Bildung, Kultur Nr. 11, Hrsg. Forschungsinstitut für Arbeiterbildung, Recklinghausen 1993, S. 183-193.
Derichs-Kunstmann, Karin, Frauen in der Männergewerkschaft. Zur Geschichte der Gewerkschaften in der Nachkriegszeit unter dem Gesichtspunkt des Geschlechterverhältnisses. In: DGB (Hg.): "Da haben wir uns alle ganz schrecklich geirrt..." Die Geschichte der gewerkschaftlichen Frauenarbeit im Deutschen Gewerkschaftsbund von 1945 bis 1960, Pfaffenweiler 1993, S. 67-125.
Hausen, Karin, Strittige Gleichberechtigung. Studentinnen an deutschen Universitäten seit Herbst 1945. In: Themenportal Europäische Geschichte (2006), URL: http://www.europa.clio-online.de/2006/Article=117 [05.01.2012]
Kaiser, Marianne/ Pscherer, Elisabeth, Hedwig Kurig – Ein Porträt, in: Keine Geschichte ohne Frauen. Eine Auswahl von Materialien zur Geschichte von Frauen in Gelsenkirchen, Gelsenkirchen 1922, S. 131-134.
Leh, Almut, Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und seine Frauen. Gewerkschaftspolitisches Engagement von Frauen in der Nachkriegszeit, in: Barbian, Jan-Pieter und Ludger Heid (Hg.): Die Entdeckung des Ruhrgebiets. Das Ruhrgebiet in Nordrhein-Westfalen 1946-1996, Essen 1997.
Zum Wiltonpark siehe unter http://de.wikipedia.org/wiki/Wilton_Park [05.01.2012]
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