Elfriede Amelong / 1895-1965

Streitbare Sozialpolitikerin

Es war bereits Nacht, etwa 1 Uhr früh am Sonntag, dennoch hatte sich unten auf der Straße eine größere Menschenmenge eingefunden. Sie beobachtete das Vorgehen im Haus. An der Wohnungstür versuchten mehrere angetrunkene Männer, sich gewaltsam Zutritt zu verschaffen. Aus dem 2. Stock heraus schrien zwei Frauen um Hilfe.

Ein Schuss fiel – wer auf wen schoss, wurde nie geklärt, verletzt wurde niemand.1

Durch die Hilferufe aufmerksam geworden näherte sich der Polizeioberwachtmeister Koch der Szene in der Göringstraße 10. Er sah, dass die beiden Frauen gewillt waren, aus dem Fenster zu springen. Um sie davon abzuhalten, versuchte er, in das Haus zu gelangen. Vor der Wohnungstür traf er auf etwa acht Männer, die – wie der Polizist später zu Protokoll gab – „durch lautes Stoßen und festes Rütteln an der Tür Einlass in die Wohnung” forderten. Als die Frauen erkannten, dass ein Polizist anwesend war, baten sie um etwas Zeit, um sich ankleiden zu können, und öffneten die Tür.

Im selben Moment bat Elfriede Amelong um polizeilichen Schutz gegenüber den SS-Männern. Mit vorgehaltenem Revolver verschafften sich die Eindringlinge Zutritt. Die Durchsuchung der Wohnung konnte der Polizist nicht verhindern, ebenso wenig, dass die Männer einige Gegenstände beschlagnahmten: eine Büste des verstorbenen Reichspräsidenten Friedrich Ebert, Protokolle der Stadtverordnetenversammlung, auch den den Nazis besonders verhasste Roman „Im Westen nichts Neues” von Erich Maria Remarque.

Zu den Eindringlingen zählten noch einige Handlanger, die Schmiere stehen sollten, sich aber in eine nahegelegene Wirtschaft zurückzogen, um sich weiteren Mut anzutrinken. Mit den Beutestücken unterm Arm, die beiden Frauen – neben Amelong wohnte ihre Freundin Ida Labonté in der Wohnung – zwischen sich, marschierten die SS-Männer sowie einige Gesinnungsgenossen von SA und Stahlhelm von der Göringstraße, der heutigen Bebelstraße, in Annen, zur SS-Wache im alten Wittener Rathaus. Dort wurden die beiden Frauen festgehalten, bis sie um 4 Uhr morgens entlassen wurden. Über die Vernehmung ist nichts bekannt. Labonté erlitt – so berichtete sie nach dem Krieg – einen Herzanfall.

Am nächsten Tag, dem 3. Juli 1933, sollten die Frauen erneut auf der SS-Wache erscheinen. Stattdessen aber entzogen sich beide dem Zugriff der Nazis durch die Flucht in das noch freie Saarland, wo Amelong und Labonté im Tagesaufenthaltsraum des Bergarbeiterverbandes Saarbrücken, dem „Heldenkeller”, Kontakt mit ihrem Freund, dem „roten Landrat” von Hörde, Wilhelm Hansmann, aufgenommen haben sollen.

Im Dezember 1933 kehrte Amelong nach Witten zurück, Labonté erst im März 1934. Offenbar hielten sie die Lage in Deutschland nicht mehr für gefährlich, während sie sich noch vor jenem Ereignis im Juli 1933 durch ständigen Wechsel des Aufenthaltsortes gegen die Übergriffe der neuen Machthaber zu schützen gesucht hatten. Auch eine dauerhafte Ausreise muss Amelong erwogen haben, denn im März 1933 hatte sie einen Auslandspass beantragt.

Elfriede Amelong wurde am 13. Februar 1895 in Berlin geboren. Die Eltern ihrer Mutter besaßen ein Gut in Schlesien. Ihr Großvater väterlicherseits arbeitete als Klempnermeister im pommerschen Stolp, ihr Vater als Metzgermeister. Ihre Eltern schickten sie nicht auf eine höhere Schule, sei es, weil sie ein Mädchen war, sei es, dass sie sich das Schulgeld nicht leisten konnten.

Nach der Volksschule besuchte sie für ein Jahr eine Höhere Handelsschule für Mädchen und arbeitete anschließend als Buchhalterin in verschiedenen Betrieben. Obschon sie zu Kriegsbeginn an einem Ausbildungskurs in der freiwilligen Kriegskrankenpflege teilgenommen hatte, war sie offenbar nicht als Krankenschwester tätig. Wenige Tage vor der Novemberrevolution 1918 zog sie nach München, wo sie sich neben ihrer Arbeit in den freien Gewerkschaften engagierte, sich insbesondere um die Frauenfrage im Handelsgewerbe kümmerte und – vermutlich an einer Einrichtung der Arbeiterbildung – Volkswirtschaftslehre und den Sozialismus studierte. Auch trat sie aus der Kirche aus.

Im Zuge ihrer Gewerkschaftsarbeit erkannte sie, dass ihre Talente auf einem anderen Gebiet lagen. In München – so berichtete sie – „hatte ich Gelegenheit, auf Vorschlag meiner Organisation [vermutlich der Gewerkschaft] und Bestätigung durch das Ministerium für soziale Fürsorge an einem Sonderlehrgang zur Ausbildung für die berufliche Wohlfahrtspflege vom 1. Juli bis 31. Dezember 1920 unter Erhalt von Stipendien teilzunehmen”. An der sozialen Frauenschule München wurde sie in allen Aspekten der Fürsorge unterrichtet, auch in Sozialversicherung, Sozialgesetzgebung, Arbeitsrecht und Erwerbslosenfürsorge.

Am 28. Juli 1921 bewarb sich Amelong auf die ausgeschriebene Stelle als Fürsorgeschwester in der kleinen Arbeitergemeinde Annen. Zwei Wochen später stimmte der „Arbeitsausschuss zur Schaffung eines Wohlfahrtsamtes” dem Vorschlag des sozialdemokratischen Gemeindevorstehers August Schlischo, Amelong vorläufig anzustellen, mit knapper Mehrheit zu.

Dass Annen 1921 eine Fürsorgerin anstellte, stand in dem größerem Zusammenhang der Modernisierung der Sozialpolitik in der Gemeinde. Anderswo, auch in Witten, bestanden zahlreiche sozialpolitische Einrichtungen schon länger, in den kleinen Bergbaugemeinden im Landkreis Hörde jedoch waren die Finanzen zumeist ebenso wenig vorhanden wie der politische Wille. Nach der Revolution 1918 versuchte der neue Landrat Hansmann, die Fürsorge im Kreis mustergültig auszubauen. Und die in Annen seit 1919 herrschende SPD nutzte die ihr gegebenen Möglichkeiten.

Aus unzusammenhängenden Einzelhilfen wurde binnen weniger Jahre ein System der Familienfürsorge geschaffen. Ein Wohlfahrtsamt sollte die Bemühungen koordinieren. Amelong arbeitete in der Säuglings- und Kinderfürsorge, der Mütterberatung und in der Lungenfürsorge.

Hier organisierte sie während der Ruhrbesetzung 1923 bis 1925 Transporte hilfsbedürftiger Kinder in das unbesetzte Gebiet. Außerdem überwachte sie die Volksküche. Nach der Eingemeindung Rüdinghausens nach Annen 1922 wurde mit Ida Labonté eine zweite Fürsorgerin eingestellt. Die beiden wurden Freundinnen und gingen – darauf lassen jedenfalls einige Quellen schließen – eine lesbische Beziehung ein.

„In der Familienfürsorge”, so beschrieb Amelong ihre Tätigkeit, „gilt der Hausbesuch der Fürsorgerin der ganzen Familie und nicht nur dem Säugling oder Schulkind oder nur dem lungenkranken Vater, oder nur dem kriminell gewordenen Jugendlichen, oder nur den im Haushalt als Sozialrentner lebenden Großeltern. Die Sorge des einzelnen Familienmitgliedes ist die Sorge der ganzen Familie. Die Fürsorgerin muss das Vertrauen der Familie besitzen, sie muss die sozialen Verhältnisse kennen und auch ihre Entwicklung würdigen.”

Mit der Eingemeindung nach Witten, so fürchtete Amelong zu Recht, könnten die sozialpolitischen Errungenschaften Annens verlorengehen. Vor allem aber würde die Stadt Witten weit weniger Mittel zur Verfügung stellen. Dass diese Befürchtungen eher untertrieben waren, war allerdings weniger dem mangelnden politischen Willen zuzuschreiben als vielmehr der katastrophalen Finanzlage der Städte im Zuge der Wirtschaftskrise ab 1929.

Amelong hatte 1921 die Annener AWO mitgegründet und nahm den Vorsitz ein. Nach der Eingemeindung Annens nach Witten stand sie dem AWO-Stadtverband vor. Auch in dieser Funktion bezog sie engagiert Stellung gegen die „Individualisierung der Fürsorge” und gegen die Einschränkung der Maßnahmen des Wohlfahrtsamtes.

Das dritte Standbein Amelongs war die Kommunalpolitik. Etwa zur selben Zeit, als ihre endgültige Anstellung anstand, trat sie der SPD bei. Und 1924 stand sie auf dem sicheren dritten Platz der Kandidatenliste der SPD für die Annener Gemeindevertretung. Nach der Eingemeindung wurde sie 1929 und 1933 auch in das Wittener Kommunalparlament gewählt, zuletzt stand sie hinter dem Magistratsmitglied Alfred Junge auf Platz 2 der Liste.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde ihr Mandat annulliert, da sie aufgrund einer Reichsverordnung als städtische Angestellte nicht gleichzeitig Kommunalparlamentarierin sein dürfe. Schließlich wurde sie aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums” zunächst beurlaubt und schließlich entlassen. Vorausgegangen waren Beschuldigungen der Annener Ortsgruppe der NSDAP gegen Amelong und Labonté, die sich auch gegen den Strich gebürstet lesen lassen:

„Kam 1920 nach Annen [richtig: 1921], zerlumpt. Wurde vom roten Kreiswohlfahrtsdirektor Küch in Berlin aufgelesen [sie war in München]. Entwickelte sich hier zum ungeheuren Agitator der S.P.D. Als Fürsorgerin wurden von ihr die roten Kreise Minderbemittelter bevorzugt. Nach Dienst empfing sie in den Amtsräumen die Frauen der Freigeistigen Gemeinschaft usw. Diese wurden hier geschult und unterrichtet. Freundin von Hansmann und dessen Frau. Bis kurz vor seiner Verprügelung [er wurde überfallen und misshandelt] hat Hansmann der Amelong sehr oft Besuche abgestattet und bis Mitternacht ausgedehnt.

Die Nationalsozialisten wollte sie mit Stumpf und Stiel ausrotten. War bis zuletzt Stadtverordnete der S.P.D. Am 21. März [1933] hisste sie noch die schwarz-rot-gelbe Fahne [die Farben der Flagge der deutschen Republik waren und sind schwarz, rot und gold]. Diese wurde von S.A. entfernt. Revolverschnauze. Man vermutet, dass sie es mit Anstand, Sitte und Moral nicht genau nimmt. Große Gefahr für die Jugend. Wird sich nie im Sinne des neuen Staates betätigen.”

Erfolglos versuchte Amelong, sich gegen ihre Entlassung zur Wehr zu setzen. Sie sei, so verteidigte sie sich gegenüber dem Regierungspräsidenten, in die SPD nur eingetreten, weil diese „dem Wirken der Fürsorge, also dem schaffenden Volke helfen [zu wollen], wohlwollend zur Seite stand”. Bereits am 1. April 1933 war sie aus der Partei ausgetreten. Amelong wurde im März 1933 ein Auslandspass nicht genehmigt, sie sah sich somit zum Bleiben gezwungen.

Wie aber, so lautete die entscheidende Frage, konnte sie der unmittelbaren körperlichen Bedrohung durch die nationalsozialistischen Schergen entgehen? Ihre erste Strategie bestand offensichtlich darin, den Wiedereinstieg in ihren Beruf als Fürsorgerin zu versuchen, dazu aber musste sie den Makel der Zugehörigkeit zur sozialdemokratischen Partei abzustreifen und austreten. Doch auch dieser Weg blieb ihr verwehrt.

Die eingangs geschilderten Vorgänge um die Hausdurchsuchung in der Nacht vom 1. auf den 2. Juli 1933 sind allein deshalb so ausführlich bekannt, weil Amelong und Labonté 1935 den Mut aufbrachten, den Staat aufgrund der dabei entstandenen Schäden zu verklagen. Damit setzten sie umfangreiche Ermittlungen der Polizei in Gang, die die für die Nationalsozialisten peinlichen Begleitumstände ausführlich offenlegten.

Wortführer der SS war der Dachdecker Adolf D., der bereits 1926 wegen Diebstahls zu einer Geldstrafe verurteilt worden war. Ein weiterer Teilnehmer, Erich R., wurde 1934 aus der SS ausgeschlossen, da er wegen Körperverletzung zu neun Monaten Gefängnis verurteilt worden war, was die NSDAP nicht hinderte, ihn in ihre Reihen aufzunehmen.

Der SS-Mann Karl D., den Amelong Anfang 1935 um die Herausgabe der gestohlenen Schreibmaschine bat, erschien bald darauf – so berichtete Amelong – „in der Uniform eines Polizeibeamten in meinem Geschäft und forderte in meinem persönlichen Interesse unter allgemein gehaltenen Drohungen mich zur Zurücknahme der von mir gestellten Behauptungen auf. Ich lehnte ab und wies ihn zur Tür hinaus.”

Selbst der Regierungspräsident hielt die Darstellung der beiden Frauen für glaubwürdig, erachtete aber „eine Erörterung der dem Anspruch zugrundeliegenden Vorgänge vor den ordentlichen Gerichten [für] untunlich”. Nicht zuletzt um die Begleitumstände der Machtübernahme nicht in der Öffentlichkeit der Gerichte bloßstellen zu lassen, hatten die neuen Machthaber 1934 ein Gesetz erlassen, das der Allgemeinheit die Lasten eines Ausgleichs der im Zuge der „nationalsozialistischen Erhebung und Staatserneuerung” entstandenen Schäden aufbürdete. 1936 schließlich entschied das Innenministerium in Berlin, den Frauen einen Ausgleich von 300 Reichsmark zu zahlen. Der unterzeichnende Staatssekretär Dr. Stuckart war derselbe, der sechs Jahre später an der berüchtigten Wannsee-Konferenz zur „Endlösung der Judenfrage” teilnahm.

Nach Amelongs Rückkehr aus dem Saarland im März 1934 eröffneten die beiden Frauen ein Lebensmittelgeschäft am Crengeldanz, Hörderstraße 4 – offenbar so erfolgreich, dass Amelong eine wirtschaftliche Ehrenurkunde mit der Unterschrift des Gauleiters der NSDAP erhielt. Dennoch waren sich die verschiedenen Behörden des Nazireiches nicht einig, wie sie ihre politische Zuverlässigkeit einschätzen sollten.

Während ein Gericht 1938 „einen günstigen Eindruck gewonnen” haben will, urteilte der NSDAP-Kreisleiter Weber 1937, sie „gilt im nat.-soz. Sinne als absolut unzuverlässig”, obschon sie zuletzt – „vielleicht aus Eigennutz” – dem Winterhilfswerk gespendet habe. Ihr Geschäft habe sie „offensichtlich tatkräftig entwickelt”, jedoch „[h]auptsächlich dadurch, dass eine größere Anzahl Gesinnungsgenossen von auswärts bei ihr ihren Einkauf tätigen”. Das Geschäft habe bis 1938 unter dem dauernden Boykott der Nazis gestanden, berichtete Labonté, das könnten Sozialdemokraten wie Albert Martmöller, Karl Rabenschlag oder Heinz Wallbruch bestätigen. Unklar bleibt allerdings, weshalb sich das Geschäft dennoch gut entwickeln konnte.

Seit September 1936 bemühte sich Amelong um den Kauf des Lebensmittelgeschäfts des jüdischen Kaufmanns Hugo Rosenthal in Stockum, Hörderstraße 326. Die Verhandlungen, so Amelong zwei Jahre später, seien jedoch wiederholt an dessen Ehefrau und am zu hohen Kaufpreis gescheitert. Amelong hielt auch den Kaufpreis, den Rosenthal 1938 mit einem Essener Kaufmann aushandelte, für zu hoch, wie sie in einem Gespräch mit einem Sachbearbeiter des Gauwirtschaftsberaters der NSDAP in Bochum am 24. Oktober 1938 äußerte. Einen Tag später wiederholte sie gegenüber der gleichen Stelle brieflich ihre Kaufabsicht und fügte hinzu, dass sie zuvor dem verlangten Kaufpreis und weiteren „Vergünstigungen, die mir mit der Einhaltung der Stellung zur Judenfrage als nicht erlaubt und annehmbar schienen”, widersprochen habe.

Rosenthal verkaufte schließlich an den Essener Kaufmann, der wiederum das Geschäft an Amelong vermietete. Ihre Äußerungen Rosenthal gegenüber sind nicht überliefert. Nutzte sie dessen Notlage aus, wollte sie nur ohne jede Rücksicht ein Geschäft erwerben oder versuchte sie ihm zu helfen, Deutschland so bald wie möglich verlassen zu können?

Amelong hatte bis 1933 im Haus Bebelstraße 10 gewohnt, das Joseph Rosenthal gehörte, einem Bruder Hugo Rosenthals. Denkbar ist daher, dass sie im Sinne Rosenthals handelte, und nur über den Kaufpreis konnten sie sich nicht einig werden. Oder hatte sich Amelong dem Nazi-Ungeist angenähert, war sie zur Antisemitin geworden? Der Sohn Rosenthals jedenfalls schilderte später, sie habe sich „wie eine ausgesprochene Judenfeindin nach Übernahme des Geschäftes” verhalten und ein Schild mit der Aufschrift „Juden werden hier nicht bedient” angebracht. Oder führte sie die Behörden vor, indem sie auf der Klaviatur der Nazi-Ideologie spielte und ihnen vormachte, sich im nationalsozialistischen Sinne zu verhalten?

Diese Fragen lassen sich mit den vorhandenen Akten nicht mehr klären. Eindeutig ist jedoch, dass Amelong wie auch der Essener Kaufmann nicht die akute Zwangslage der jüdischen Kaufleute unmittelbar nach dem Novemberpogrom 1938 ausnutzten. Weil den Nazi-Behörden der Kaufpreis am Ende immer noch zu hoch war, verschleppten sie Rosenthal und seinen Sohn Hans schließlich für sechs Wochen in das KZ Sachsenhausen, bis sie ihn mit der Maßgabe entließen, einen Teil der Kaufsumme den Nazis zukommen zu lassen. Anders als seinem Sohn gelang es Rosenthal nicht mehr rechtzeitig auszuwandern – 1942 wurden er und seine Frau Laura im Rigaer Ghetto ermordet.

1941 drohte der NSDAP-Kreisleiter Dedecke, Amelong die Handelserlaubnis zu entziehen, da sie den Kaufpreis für das Geschäft noch nicht an Rosenthal entrichtet habe. Sie rechtfertigte sich mit dem Hinweis, dass der Gauwirtschaftsberater ihr verboten habe, an Rosenthal zu zahlen. Der aber widersprach, er habe ihr lediglich empfohlen, den Kaufpreis auf ein Sperrkonto zu zahlen. Das hätte letztlich nur bedeutet, dass die Nazi-Behörden leichter auf das Vermögen Rosenthals hätten zugreifen können.

Wegen Krankheit gab Amelong 1941 beide Geschäfte an Labonté ab, die bald darauf den Stockumer Laden weiterveräußerte. Was Amelong zwischen 1941 und dem Kriegsende tat, lässt sich nicht rekonstruieren. Kurz nach der Befreiung im Frühjahr 1945 bemühte sie sich um die Wiedereinstellung in den öffentlichen Dienst, am 5. Juni 1945 stellte ihr der vorläufige Bürgermeister ein Zeugnis über ihre vor 1933 geleistete Arbeit aus. Seit 1948 wirkte sie im Gesundheitsamt, zuletzt als Leiterin der Verwaltung des Amtes.

Hier galt sie als „einziger Mann” unter den vielen Frauen, als eine harte Verhandlungspartnerin. Doch immer häufiger wurde sie krank und zur Kur geschickt, bis sie 1957 vorzeitig pensioniert wurde. Ihren Beruf hatte sie ohnehin nicht mit Neigung versehen, sie hielt ihre Aufgaben dort für „Kleinkram”. Aber von etwas musste sie ja leben, so sehr ihre Interessen auch auf der politischen Ebene lagen. Wie konnte die Verwaltung, die sich so perfekt in das Nazi-Regime eingepasst hatte, umfassend demokratisiert werden? Aber auch: Wie ließ sich der Wohlfahrtsstaat wiederaufbauen und ausbauen? Das waren die Fragen, mit denen sie sich beschäftigte. Und dazu nutzte sie ihre Verbindungen.

Amelong verfügte über gute Kontakte zu den britischen Besatzungsbehörden. Hetty Santorius, damals Vorsitzende des AWO-Ortsvereins Annen-Ardey, erinnerte sich später, dass sie zusammen mit Amelong von einem britischen Offizier eingeladen wurde: „Wir haben dadurch Nahrungsmittel, Kleider usw. zur Verfügung gehabt, um sie den ärmeren Leuten dann zu verteilen.” Die AWO, die 1945 wiedergegründet worden war, hatte unter Amelongs erneuter Leitung einen raschen Aufschwung genommen, von rund 800 im Jahre 1945 stieg die Mitgliederzahl bis Anfang 1948 auf rund 3.000.

Als Vertreterin der Frauen, später der AWO saß Amelong mehrere Jahre lang im Vorstand des Wittener Stadtverbandes und auch des Bochumer Unterbezirks der SPD. Anfang 1950 wurde sie nicht wieder aufgestellt und außerdem bedrängt, aus dem Unterbezirksvorstand freiwillig auszuscheiden.

Dem war eine immer wieder auftretende Kritik an ihr vorausgegangen. Mehrere Genossen warfen ihr vor, „innerhalb der AWO diktatorisch vorzugehen”. Andere, darunter Heinz Wallbruch, setzten sich für sie ein, sie müsse sich auf einer SPD-Versammlung nicht zu ihrem Verhalten in der AWO äußern. Offenbar – das zeigen die Protokolle mehrerer Stadtverbandssitzungen aus der frühen Nachkriegszeit – war das Verhältnis von Partei und Wohlfahrtsorganisation in einem Wandel begriffen.

Denn auch in Stockum weigerte sich 1950 die dortige AWO-Ortsgruppenvorsitzende, der Partei gegenüber Rechenschaft abzulegen. Der Aktionsausschuss der Wittener SPD diskutierte 1949 in Amelongs Abwesenheit über sie, dabei bezogen der Fraktions- und Stadtverbandsvorsitzende Walter Nowak ebenso wie die Frauenbeauftragte und spätere Bundestagsabgeordnete Alma Kettig sowie zahlreiche weitere Funktionäre gegen sie Stellung: „Allgemein wurde zum Ausdruck gebracht, dass die Genossin Amelong, obwohl sie hohe Funktionen in der Partei bekleidet, sich in jeder Hinsicht passiv verhält und dass sie wegen Vernachlässigung ihrer Aufgaben aus allen Parteiämtern entfernt werden muss.” Einer warf ihr gar vor, „ein wesentlicher Teil der im Arbeitsausschuss der A.-W. tätigen Frauen und der auf der Generalversammlung zugelassenen Delegierten sei von der Gen. Amelong geschmiert worden”.

Die Vorwürfe oder die Beschreibung der Diskussionen innerhalb der AWO zu überprüfen, ist nicht mehr möglich, da deren Protokolle nicht überliefert sind. Manches scheint an den Haaren herbeigezogen zu sein. Fest steht jedoch, dass Amelong ihre Prioritäten im Konfliktfall immer aufseiten der AWO setzte. In erster Linie war sie Sozialpolitikerin, ob als Fürsorgerin oder als Vorsitzende der sozialdemokratischen Wohlfahrtsorganisation. Ihre parteipolitische Anbindung war ihr hingegen letztlich zweitrangig. Auch nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt der AWO-Vorsitzenden blieb sie deren Ehrenvorsitzende.

Amelongs Beziehungen zu den britischen Militärbehörden blieben gut. 1949 wurde sie eingeladen, auf Kosten der britischen Regierung an einem sechswöchigen Kursus im englischen Wilton Park Educational Centre teilzunehmen, der im Rahmen der Re-Education-Politik deutsche Teilnehmer aus unterschiedlichen Bereichen mit der britischen Demokratie vertraut machen sollte. Hier wurden in zivilisierter Atmosphäre die brennenden Fragen der jüngsten Vergangenheit und auch der unmittelbaren Zukunft besprochen. War es eine Spitze gegen ihre innerparteilichen Kritiker? Jedenfalls schrieb sie am 29. November 1949 dem Wittener Stadtrat: „Die Arbeit in Wilton Park beruht auf freien, von Sachkenntnis getragenen Diskussionen, die auf diesem neutralen Boden ohne Leidenschaft geführt werden.”

Elfriede Amelong, die zeitlebens eine streitbare Persönlichkeit war, starb am 20. Oktober 1965 in Witten. Ihr Leichnam war der erste, der im neuen Krematorium des Hauptfriedhofs in Witten eingeäschert wurde.

• geb. am 13. Februar 1895 in Berlin

• gest. am 20. Oktober 1965 in Witten

• ledig, keine Kinder

• Konfession dissident

• seit 1921 Fürsorgerin in Annen, später Witten

• 1921 Gründerin AWO Annen

• 1921-1933 AWO-Vorsitzende Annen, später Witten

• 1924-1929 Gemeindevertreterin Annen (SPD)

• 1929-1933 Stadtverordnete Witten (SPD)

• 1948-1957 Verwaltungsleiterin Gesundheitsamt Witten


Dr. Frank Ahland /
Stadtarchiv Unna

  1. Dieser Text über Elfriede Amelong erschien zuerst auf der Website der Arbeiterwohlfahrt, Bezirk Westliches Westfalen e.V.
Literatur:

Frank Ahland: Elfriede Amelong. Streitbare Sozialpolitikerin, in: Wittener. Biografische Porträts, hrsg. von Frank Ahland u. a. in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv Witten, Witten 2000, S. 129-139

Zitation: Ahland, Frank, Elfriede Amelong, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/elfriede-amelong/

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