„Frauen sollten viel mehr Theater machen!“ Diese mehrdeutige Aufforderung aus ihrer ersten Produktion hatten 1984 zwölf Frauen aus Recklinghausen auch an sich selber gerichtet und bis 1991 insgesamt sechs Stücke auf die Bühne gebracht.
„Warum machen wir daraus nicht ein Theaterstück?“ Es lässt sich nicht mehr rekonstruieren, welche von den Frauen aus der Gewerkschaft ÖTV (Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr) in Recklinghausen im Herbst 1983 diese Idee zuerst äußerte. Sie sprachen mal wieder über die vielfältigen Probleme erwerbstätiger Frauen: Arbeitsstress, Teilzeitarbeit, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Doppelbelastung, schlechte Bezahlung. Und sie überlegten, wie sie diese Themen am 8. März 1984, dem nächsten Internationalen Frauentag, thematisieren wollten. So ein Einfall besaß zu Beginn der 1980er Jahre einige Sprengkraft: Weder in der gewerkschaftlichen Kulturarbeit mit Laien, noch in der städtischen hatten sich bis dahin Frauen zu eigenen Gruppen mit eigenen Themen und eigenen kulturellen Ausdrucksvermögen organisiert.
In Recklinghausen kamen besonders günstige Ausgangslagen für dieses selbstbewusste Unterfangen zusammen: Die Frauenbewegung hatte sich seit 1968 immer auch als eine kulturelle Bewegung verstanden, die ihre Inhalte durch unverbrauchte Formen politischer Ansprache und spektakuläre Aktion zu vermitteln suchte. In Recklinghausen herrschte mit den Ruhrfestspielen seit 1946 ein kulturelles Klima, das nicht nur ArbeiterInnen und Angestellten eine Teilhabe am kulturellen Erbe ermöglichte, sondern sie auch zu eigenem künstlerischem Tun ermutigte. Hier, in Recklinghausen, konnte frau auf Theaterprofis zurückgreifen, Schauspielerinnen und Theaterpädagoginnen, die das nötige Know–How vermittelten.
Es folgten viele Gespräche und Telefonate mit Frauen bei den Ruhrfestspielen, Kolleginnen in den Betrieben, Freundinnen. Anfang 1984 hatte sich eine Gruppe gefunden: 10 Frauen zwischen 25 bis 55 Jahren mit unterschiedlichen Berufen wie Buchhalterin, Sozialarbeiterin, Gewerkschaftssekretärin, Pädagogin, Studentin, Verkäuferin etc. Ihnen zur Seite standen zwei Schauspielerinnen aus dem Ensemble der Ruhrfestspiele: Petra Afonin und Ingeborg Wolff. Musikalische Unterstützung leistete der einzige Mann im Team: der Musiker Georg Hahn.
Ein Spiel- und Probeort war bald gefunden. Das verlassene Straßenbahndepot in der Castroper Strasse diente den Ruhrfestspielen bereits als Spielort und die Frauen fanden, dass das Depot gut zu ihren Themen rund um die Erwerbsarbeit von Frauen passte. Schließlich hatte eine der aktiven ÖTV-Kolleginnen über viele Jahre im Depot Straßenbahnen geputzt. Ihre Lebensgeschichte sollte Teil des Stückes werden, das als Revue aus Geschichten, kleinen Szenen, Liedern und Sketchen entworfen wurde.
Keine konnte sich in den eher wirren Anfängen am Beginn des Jahres 1984 vorstellen, dass sie als Gruppe im März 1984 ein komplettes, spielfähiges Programm erarbeitet haben würden. Inszenieren – in „Szene setzen“ – das taten ja die beiden als Regiseurinnen tätigen Schauspielerinnen; aber was alles dazu gehörte, mussten die als Schauspielerinnen tätigen Laiinnen noch lernen. Szenenbild und Kostüme waren nur das Äußerliche. Damit alles klappte, gehörten das Aufeinander-Eingehen, der richtige Ablauf, die Hinwendung zu den ZuschauerInnen und vieles andere mehr dazu. Immer wieder verzweifelte eine der Laiendarstellerinnen und musste aufgefangen, neu motiviert werden. Was alle verband, war die Lust an der gemeinsamen Arbeit und die Inspiration, die durch die Zusammenarbeit mit den Schauspielerinnen und dem Musiker bewirkt wurde. In der Schlussphase kurz vor der „Uraufführung“ entwickelte sich der Begriff „Durchlaufprobe“ zum meistgehassten Stichwort. Wie wichtig ein funktionierender Ablauf war, wurde den „Schnepfen“ erst richtig bewusst, als sie ihre Produktion auf anderen Bühnen zur Aufführung brachten.
„Frauen – Stille Reserve?“ lautete das Motto für den Internationalen Frauentag 1984 in Recklinghausen. Das passte gut zu den Themen und Anliegen der Schnepfen rund um Erwerbstätigkeit und Doppelbelastung von Frauen. „Kinder, Küche, Kurzarbeit“ nannten sie ihr Programm. Am 10. März 1984 hatte es Premiere. Das Theater im Depot war ausverkauft, Szenenapplaus und nicht enden wollender Beifall am Schluss ließen alle Beteiligten strahlen. „Vorher war ich unheimlich aufgeregt, aber jetzt schwebe ich wie auf Wolken“, brachte bei der Premierenfeier eine „Schnepfe“ ein für alle vollkommen neues Gefühl auf den Punkt.
Der Publikumszuspruch beflügelte und begleitete Die Schnepfen in den kommenden Monaten bei der Aufführung ihres Stückes bei unterschiedlichsten Anlässen quer durch das Ruhrgebiet und darüber hinaus, Getragen vom Erfolg machten sie sich ab Herbst 1984 an die nächste Produktion. Zwänge sollten diesmal das Thema sein. „Mit 17 hat frau noch Träume. (Lieber außer sich als eingezwängt)“ wurde am 9. März 1985 im Theater im Depot uraufgeführt. In diesem Stück thematisierten Die Schnepfen auf gewohnt unterhaltsame, aber auch nachdenkliche Weise die gesellschaftlichen Normen und Zwänge, denen Frauen von der Kindheit an über die Jugend bis ins Alter ausgesetzt sind. Inzwischen waren Die Schnepfen nicht nur im Ruhrgebiet bekannt. So spielten sie auch bei der Eröffnung der Landesbezirksfrauenkonferenz des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB).
Mit ihrer dritten Produktion „Tarzan ist nicht mehr da“, die am 9. März 1986 im Theater im Depot Premiere hatte, machten sich Die Schnepfen auf eine Reise rund um die Welt und quer durch die Geschichte. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits zwei Frauen wegen der arbeitsintensiven Probenarbeit aus der Gruppe ausgestiegen. Sie konnten die Mehrfachbelastung mit Erwerbs-, Familien- und Theaterarbeit nicht mehr unter einen Hut bringen.
Es sollten – mit einer kleineren Besetzung, zu der später andere Frauen hinzukamen – noch drei weitere Inszenierungen folgen. 1987 bei der Produktion „Alles, was ich liebe, ist Sand im Getriebe“ waren nur noch vier Schnepfen übrig. Sie sagten dann auch selbstironisch zur Recklinghäuser Zeitung: „Der Brutbestand der Theaterschnepfe wird im Vestischen auf nicht mehr als fünf brütende Weibchen geschätzt.“ Es sah so aus, als wäre es das das letzte Mal, dass die Frauen zusammen „Theater machten“ – Doch sie hatten ihre eigene Lust am gemeinsamen Stücke Entwickeln und Spielen unterschätzt. Eine von den Ausgeschiedenen stieß 1989 wieder hinzu und die Recklinghäuser Zeitung jubelte am 4.März 1989: „Schnepfen singen wieder“. Am 11. März 1989 stimmte ein begeistertes Publikum bei der Premiere von „Jenseits auf Mallorca“ in den Jubel ein.
Noch einmal machten Die Schnepfen von sich reden, dieses Mal allerdings nicht in Recklinghausen, sondern in Bochum. Im Sommer 1991 fand der Evangelische Kirchentag im Ruhrgebiet statt. Die Schnepfen – verstärkt um einige neue Mitglieder – entwickelten noch einmal ein Stück, diesmal eines, das sich mit Frauen aus der Geschichte des Ruhrgebiets befasste: „Mein Gott, was war´n wir tüchtig“ wurde ab dem 30. Mai 1991 sechsmal in Bochum gespielt. Auch diese Aufführungen waren ausverkauft und wurden vom Publikum bejubelt.
Danach kam es zu keiner neuen Produktion. Die zusätzlichen Belastungen durch Theaterarbeit waren von den meisten „Schnepfen“ nicht mehr zu schaffen. Schade! Spricht man heute die ehemaligen Mitglieder der Truppe auf ihre Erfahrungen an, so erzählen sie alle von der Lust an der gemeinsamen Arbeit, aber auch von den Schwierigkeiten, diese mit den alltäglichen Belastungen als berufstätige Frau mit Familie unter einen Hut zu bringen.
Warum aber nannte sich diese legendäre Theatergruppe bloß Die Schnepfen? In einer Probensituation, in der mal wieder was nicht so lief, wie die Regisseurinnen vorgeschlagen hatten, machte Petra Afonin ihrem Frust Luft und sagte: „Ihr seid doch alles Schnepfen!“ Immer wieder benutzte ihn nun die eine oder andere der Frauen und irgendwann wurde er zum positiven Etikett. Das Recklinghäuser Frauentheater Die Schnepfen war geboren. Heute, im Rückblick, überwiegt bei den meisten von ihnen die Erinnerung an Lust und Spaß am gemeinsamen Tun. Frauen sollten viel mehr Theater machen!
Dr. Karin Derichs-Kunstmann / Arbeitskreis Recklinghäuser Frauengeschichte
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