Als das LWL-Industriemuseum Dortmund Männer befragte, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Kleinzechen-Unternehmer arbeiteten, ergaben sich auch Kontakte zu den Ehefrauen. Ihre Berufsbiografien waren nicht minder interessant, zeigten sie doch, dass weibliche Erwerbstätigkeit in den Nachkriegsjahren nicht die Ausnahme, sondern vielfach wirtschaftliche Notwendigkeit und alltägliches Leben darstellten. Auch der Mann von Charlotte Schneider verdiente mit dem dringend benötigten Heizmaterial, dem „schwarzen Gold“ seiner Kleinzeche in Witten, das Startkapital für den Wiederaufbau einer neuen Existenz.
Die Kleinzechen-Unternehmer werden in der Dauerausstellung „Zeche Eimerweise“ des LWL-Industriemuseums Zeche Nachtigall in Witten a.d. Ruhr vorgestellt. Das Lebenswerk ihrer Frauen wurde 2009 im Salon „Frauenbilder“ präsentiert und soll demnächst auch in der Dauerausstellung Platz finden.
Charlotte Schneider, 1920 in Herbsleben/Thüringen geboren, stammt aus einer zunächst gut situierten Familie. Der Vater ist Baumeister, die Mutter Hausfrau. Die Weltwirtschaftskrise, die die Familie in schwierige finanzielle Verhältnisse stürzt, verhindert die geplante Lyzeumsausbildung für Charlotte. Sie beendet die Volksschule und macht eine Ausbildung zur Kindergärtnerin.
Durch äußere Umstände bedingt, gibt es in ihrem Leben viele Brüche, die immer wieder berufliche Neuorientierungen mit sich bringen. Ihr Wahlspruch, den sie als junges Mädchen aussuchte: „Herr, lass mich niemals feige sein!“, hat ihr dabei sicher geholfen. Sie drückt es im Interview so aus: „… immer wieder habe ich gedacht, verdammt noch mal, wirf die Flinte nicht ins Korn, irgendwie geht\s weiter…“. 1948 kommt sie mit zwei Kindern aus zwei Ehen unter schwierigsten Umständen aus der sowjetisch besetzten Zone nach Westfalen. Mit ihrem dritten Ehemann, Karl-Ernst Schneider, den sie 1949 heiratet, baut sie sich in Rheine und später in Münster eine neue Existenz auf.
Die staatlich geprüfte Kindergärtnerin, die bis zur Geburt ihres ersten Sohnes, 1944 in Weimar in einer großen Kindertagesstätte arbeitet, wird während des Krieges und danach Geschäftsfrau im Groß- und Einzelhandel. Nach dem frühen Tod ihres ersten Mannes sichert sie damit sich und ihrer Familie den Lebensunterhalt. Frau Schneider schreibt in ihren Erinnerungen: Wir belieferten Textilgeschäfte mit Kurzwaren … aber auch mit Modeschmuck … Zu Weihnachten lieferten wir handgearbeitete Puppen oder Christbaumschmuck … Absatzschwierigkeiten hatten wir nie … Im Büro hielt eine junge Frau die Verbindung zu unseren Kunden aufrecht. Für die Betreuung ihrer Kinder beschäftigt sie damals ein Kindermädchen und eine Hausangestellte. Auch später, in ihrem weiteren Berufsleben, muss sie diese oft aufwändig zu organisierende „Fremdbetreuung“ nutzen, inklusive der kostenlosen Hilfe von Familienangehörigen oder Nachbarn. Andere Möglichkeiten stehen nicht zur Verfügung.
Angekommen in Westfalen macht sie nach ihrer Heirat mit Karl-Ernst Schneider den Führerschein, das Hochzeitsgeschenk ihres Ehemannes. Damit kann sie für die Näherei, die ihr Mann in einem gemieteten Saal des ehemaligen Zisterzienserinnen-Klosters Gravenhorst in Hörstel betreibt, als Einkäuferin tätig werden. Sie fährt nach Gildehaus und Nordhorn um Köper und Cord zu kaufen, der von den zwölf Näherinnen gleich zu Arbeitsanzügen oder Cordhosen vernäht wird. In den 1950er Jahren, als ihr dritter Ehemann als Kleinzechen-Unternehmer mehrere Jahre in Witten tätig ist, betreibt sie gemeinsam mit ihrem Schwiegervater eine Kaffeerösterei mit mehreren Filialen in Rheine. Sie übernimmt mit dem Geschäftsauto den Außendienst: die Belieferung für Gasthäuser, Kaffeehäuser und Einzelhändler. Sie ist auch für die Büroarbeit zuständig oder bastelt die Fensterdekoration. Aufgrund der starken Konkurrenz der Großröstereien muss das Unternehmen 1960 schließen. Frau Schneider übernimmt, als es für das Familieneinkommen notwendig ist, auch Aushilfstätigkeiten.
Mit 51 Jahren, das jüngste ihrer sechs Kinder ist 13 Jahre alt, macht sie eine kaufmännische Ausbildung und arbeitet danach ganztags, bis sie 65 Jahre alt ist, als Angestellte in der öffentlichen Verwaltung. Die finanzielle Versorgung im Alter ist sie immer ein wichtiger Aspekt der Berufstätigkeit gewesen. Zumeist war die Arbeit notwendig, aber darüber hinaus, bedeutete sie Selbstverwirklichung und finanzielle Unabhängigkeit von ihrem Mann. Arbeit ist für sie bis heute selbstverständlich und wichtig. Fast nebenbei zieht sie sechs Kinder groß und organisiert Haushalt und Familie, mit hohen Ansprüchen an sich selbst. Im Alter absolviert Charlotte Schneider ein Geschichtsstudium in Münster und arbeitet bis heute ehrenamtlich die Geschichte ihrer Heimatstadt Herbsleben auf. Ihr Lebensmotto im Alter: „Alt werden kann schön sein, wenn man teilhaben darf.“
Charlotte Schneider, die ihr Leben lang berufstätig war, passt so gar nicht zu dem von den Medien aufgebauten Stereotyp und Ideal der hübschen, adretten Hausfrau und Mutter, die in den 1950er und 1960er Jahren ausschließlich in der Sorge um Mann, Kinder und Haushalt aufgingen, sondern bestätigt die vorliegenden Zahlen aus dieser Zeit. 1950 waren 31,3 Prozent und 1957 34,2 Prozent der Erwerbspersonen Frauen und der Anteil der verheirateten Frauen bei der Erwerbstätigkeit stieg in den 50er Jahren sogar an.
Zum Vergleich: Heute arbeiten fast zwei Drittel aller Frauen im erwerbsfähigen Alter, allerdings sind fast 40 Prozent von ihnen nur Teilzeit beschäftigt.
Ingrid Telsemeyer / LWL-Industriemuseum
Orte:LWL-Industriemuseum Zeche Nachtigall, Nachtigallstraße 35, 58453 Witten
Literatur:Hervé, Florence (Hg.), Geschichte der deutschen Frauenbewegung, Köln, 2001.
Interviews und Gespräche mit Charlotte Schneider geführt von Ingrid Telsemeyer 2007-2009, LWL-Industriemuseum, Dortmund.
"Lebenslauf in Prosa“ von Charlotte Schneider, Münster,2008, Typoskript im LWL-Industriemuseum, Dortmund.
Presse Info der Bundesagentur für Arbeit vom 7.4. 2009.
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