Als am 13. März 1920 in Berlin der rechtskonservative ostpreußische Generallandschaftsdirektor Kapp gegen die Regierung putschte, reagierte die Arbeiterschaft mit einem Generalstreik. Am 17. März wurde der Putsch niedergeschlagen. Im Ruhrgebiet führten Arbeiter- und Vollzugsräte den Aufstand mit Streiks, an Verhandlungstischen und mit Gewehren weiter. Neben dem ursprünglichen Ziel, die rechten Putschisten zu vertreiben, den Einmarsch von Freikorps ins Ruhrgebiet zu verhindern und die Demokratie zu stützen, identifizierten sich viele Arbeiter jenseits von Parteiprogrammen mit Zielen wie der Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse durch Sozialisierung des Bergbaus.
Die Ernährungslage war seit dem Krieg katastrophal, der „Steckrübenwinter“ 1916/17 noch nicht vergessen. Von dem Lohn eines Arbeiters mussten im Durchschnitt die Lebenshaltungskosten von fünf Personen bestritten werden. Deshalb kämpfte die Arbeiterschaft im Angesicht ihrer halb verhungerten Familien konkret für höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten, Beteiligungsstrukturen – kurz: ums Überleben.„Wir verlangen Eigentumsrecht an den Schätzen, die sich auf und unter der Erde vorfinden. Wir verlangen das Paradies auf Erden und lassen uns nicht länger mit der Hoffnung auf ein besseres Jenseits abspeisen“ – forderte der Vollzugsrat der Arbeiterschaft der Zechenkolonie Lohberg in Dinslaken.
Rund drei Wochen dauerte der Versuch der Arbeiter- und Vollzugsräte, die politischen Verhältnisse neu zu ordnen, dann wurde er in einem Blutbad von erneut einmarschierenden Reichswehrtruppen, bewaffneten Sicherheitskräften und Zeitfreiwilligen erstickt.
Im Raum Hamm agierte die Reichswehrbrigade 21 des Freiherrn von Epp. Am 23. März erreichte sie die Bereitstellungsräume, der Vormarsch begann. Am 31. März erschoss die Reichswehr in Herringen und Radbod die ersten Aufständischen. Am Gründonnerstag, dem 1. April, trafen gegen Mittag Teile des Korps Epp und der Roten Ruhr-Armee in einem blutigen Gefecht bei Pelkum aufeinander. Am 2. April rückten die Regierungstruppen von Pelkum aus weiter nach Westen vor. In den ersten Apriltagen wurden 150 bis 300 Arbeiter und Arbeitersamariterinnen getötet, darunter auch Anna Kalina, die am 2. April 1920 in Rünthe einen verwundeten Kämpfer der Roten Ruhr-Armee versorgte. Sie wurde kurzerhand vor der Scheune des Bauern Schulze-Elberg hingerichtet. Hausdurchsuchungen, Entwaffnungen, Standgerichte, Massenverhaftungen und Massentötungen begleiteten den Vormarsch der Reichswehrtruppen. Am 6. April rückte die Reichswehr in Dortmund ein, die letzten Reste der Roten Ruhr-Armee flohen.
Die im Ruhrgebiet zusammengezogenen Reichswehrsoldaten überlieferten in ihren Briefen, Erinnerungen und Berichten Bilder von proletarischen Frauen, die als keifende, kratzende, spuckende, beißende, hurende Flintenweiber die Gewalttätigkeit der männlichen Kämpfer noch übertrafen. Diese sexualisierten Bilder verweisen auf die Ängste der Reichswehr-Soldaten – die Realität in den Bergkamener Arbeiterkolonien sah anders aus. Hier lebten Frauen wie Auguste Heer. Mit 19 Jahren erwartete sie ihr zweites Kind. Am 4. April im Morgengrauen erschoss die Reichswehr ihren Vater, den Syndikalisten Karl Kammeyer auf der Zechenhalde. Er hatte im Verdacht gestanden, an der Sprengung der Eisenbahnbrücke in Pelkum durch die Aufständischen maßgeblich beteiligt gewesen zu sein. Am Abend des gleichen Tages wurde auch ihr Mann Fritz Heer in Oberaden an der heutigen Jahnstraße standrechtlich erschossen, weil er sich im Besitz eines beschlagnahmten Wagens befand. Ausgelöst durch den Schock bekam die hochschwangere Auguste Heer Wochenbettfieber. Sie erlebte weder die Beerdigungen der beiden Männer, noch die ihres kleinen Sohnes, der ebenfalls in dieser Zeit starb. Zwei Wochen später brachte sie ihr zweites Kind zur Welt, das überlebte. Mittellos stand sie nun da. Frauen und Kinder der Aufständischen erhielten keine Unterstützung.
1925 heiratete Auguste Heer den Bergkamener Sozialdemokraten Friedrich August Möller. Sie wurde Mitglied in der SPD und baute nach 1945 die Frauengruppe auf, die sie ab 1948 leitete.
Auguste Möllers Erfahrungen von Hunger, Widerstand, Verlust und Leid stehen stellvertretend für viele Frauen und Männer aus der Arbeiterschaft. Kaum reflektiert wurde bislang, wie diese Erfahrungen nach 1920 weiter im Familien- und Ortsgedächtnis präsent blieben und in die Gründung der Bundesrepublik hinein wirkten. Auguste Möller wohnte auch mit ihrem zweiten Mann weiterhin in der Kolonie Schönhausen. Ihre Erinnerungen blieben in der Organisation des Raumes und der Materialität des Milieus aufbewahrt, in denen sie sich täglich bewegte. Sie entschloss sich zu einem aktiven politischen Engagement in der SPD und schuf damit über den Nationalsozialismus hinaus eine biografische Kontinuität.
Dr. Uta C. Schmidt / frauen/ruhr/geschichte
Orte:Bergmannskolonie Schönhausen, Hansemannstraße 14, Lentstraße 6, 59192 Bergkamen
BergkamenAWO-Seniorenheim, Marie-Juchacz-Str. 1, 59192 Bergkamen (letzter Wohnort von Frau Möller)
Die u.a. Publikation von Ludgar Fittkau und Angelika Schlüter ist ein politischer Reiseführer zu Erinnerungsorten des Ruhrkampfes. Sie verzeichnet Orte in Wetter, Witten, Bochum, Hattingen, Essen, Mülheim, Dorsten, Kirchhellen, Bottrop, Duisburg, Oberhausen, Dinslaken, Voerde, Wesel, Hünxe.
Dreßel, Klaus-Peter: Denkanstöße durch "Weiberröcke", hg. v. d. Stadt Bergkamen, VHS-Geschichtswerkstatt, Typoskript o.O. [Bergkamen] o.J.
Litzinger, Martin, Bergkamen im „Ruhrkrieg“ von 1920, in: Kreis Unna (Hg), Heimatbuch Kreis Unna, Unna 1991, S. 84-87.
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