Noch immer kommt fast zwangsläufig die Frage, wenn man einen turksprachigen Namen trägt und perfekt Deutsch spricht: „Fühlen Sie sich mehr als Türkin oder mehr als Deutsche?“ Aslı Sevindim pariert sie mit charmantem Lächeln und in unüberhörbarem Ruhrdeutsch:„Mehr als Ruhri“. Sie bringt damit in eine Kultur des Entweder–Oder ein unvorhergesehenes Drittes. Indem sie sich dabei auf das Ruhrgebiet bezieht, ersetzt sie jedwede wesensmäßige Vorstellung von „Kultur“,„Nation“ und „Ethnie“ durch die historische Erfahrung einer Einwanderungsgesellschaft, deren Entwicklungspotentiale sich aus Begegnungen, Zusammenarbeit, Mischungsverhältnissen und Multitude speiste und speist.
Aslı Sevindim wurde 1973 in Duisburg geboren. Ihre Eltern stammen aus Nordwestanatolien. Die Mutter, Gülisan Sevindim, reiste als 18-jährige aus Eskisehir 1971 zuerst nach Deutschland. Sie wollte noch etwas Geld verdienen und Erfahrungen sammeln, bevor sie in der Türkei ein Pädagogikstudium aufnehmen wollte. Sie besorgte sich alle Papiere, die sie als Arbeitsmigrantin benötigte und wurde schon kurze Zeit später von der Firma Leifheit angeworben. Später holte ihr Bruder sie nach Duisburg, wo sie bei Phillips in Krefeld am Band Fernseher montierte. Als dann die Arbeitspapiere ihres Mannes vorlagen, reiste er ihr nach. Er begann zuerst als Maurer, dann als Näher und schließlich bei Thyssen in Duisburg als Kranführer zu arbeiten. Nach der Geburt der Tochter Asli zog die Familie aus der Wohngemeinschaft, zu der sich drei türkische Paare zusammengefunden hatten, von Meiderich nach Duisburg-Marxloh in eine eigene Wohnung.
Zu Aslı Sevindims Kindheitserinnerungen gehören die Kriegswitwen im Haus, die zu ihren Ersatzomas wurden, und bei denen sie zum ersten Mal Pellkartoffeln mit Butter und Salz aß. In Marxloh kam sie zusammen mit ihrer jüngeren Schwester Gaye in den katholischen Kindergarten, besuchte die Grundschule und das Gymnasium. Hier begann sie als Schülerin im Duisburger Bürgerfunk mitzuwirken, verfasste erste Beiträge für Radio Duisburg und besuchte ihre erste Demonstration gegen Rechts. Sie schloss die Schule mit dem Abitur ab und studierte Politikwissenschaften.
Ihre Moderations-Erfahrungen beim Radio Duisburg (Lokalradio) führten Aslı Sevindim ins Aufbauteam von Funkhaus Europa, das der WDR (Westdeutsche Rundfunk) seit dem 5. Mai 1999 zusammen mit anderen ARD–Sendeanstalten als ganztägiges, multikulturelles Programm für Alle auf eigener UKW–Frequenz sendet. „Die Besonderheit“, so Aslı Sevindim, „lag und liegt darin, dass wir Meldungen aus Deutschland in ihren internationalen Dimensionen, im Denkhorizont jenseits der Grenze, recherchieren und präsentieren. So entwickelt sich eine Multiperspektivität, die es kaum in anderen Nachrichten- und Kultursendungen gibt. Dies ist ein Informationsprinzip, das allen Hörerinnen und Hörern zugute kommt.“
Aslı Sevindim moderierte die Frühsendung Cosmo im Funkhaus Europa, ebenso Venus FM auf WDR 5, sie wechselte dann zu Cosmo TV, dem interkulturellen Fernseh-Magazin. Seit 2006 bildet sie zusammen mit Martin von Mauschwitz das Anchorteam der Aktuellen Stunde, damit wurde sie zur ersten Moderatorin mit türkischen Wurzeln in einer aktuellen Nachrichtensendung. Sie ist sich ihrer Vorbildfunktion bewusst: „Allein, dass jemand mit türkischem Nachnamen in vollständigen deutschen Sätzen Beiträge anmoderieren kann, bringt ja schon kulturelle Stereotype durcheinander und bietet natürlich Menschen mit türkischen oder anderen Wurzeln neue Rollenmodelle: das will ich/ das kann ich auch.“
Aslı Sevindims heimatlicher Stadtteil Marxloh, zweiseitig durch Thyssen-Krupp-Gelände begrenzt und heute zusätzlich durch die Duisburger Stadt–Autobahn durchtrennt, entwickelte sich mit der wachsenden Montanindustrie als Arbeiterwohnort mit kleinstädtischem Gepräge um eine Geschäftsstraße in gründerzeitlichem Baustil. Noch als Jugendliche, so erinnert sie sich, kaufte sie ihre Markenjeans in Marxloh. Durch den Strukturwandel im Montanbereich gingen allein in den 1990er Jahren mehr als 6.000 Arbeitsplätze verloren. Die zwangsläufige Abwanderung, die Verarmung der Verbliebenen, der Wandel in der Bevölkerungsstruktur, aber auch fehlende Investitionen und das geänderte Kaufverhalten der finanzstärkeren Bevölkerungsgruppen machten Marxloh zu einem sterbenden Stadtteil mit abnehmender Bedeutung als Einzelhandelsstandort.
Mehr als 30 Prozent der insgesamt 18.000 Bewohnerinnen und Bewohner des Stadtteils haben heute ausländische Wurzeln. Langsam begannen Stadt- und Entwicklungsplanung, Vereine und lokale Initiativen diese kulturelle Vielfalt als positives Zeichen wahrzunehmen und umzuwerten. In einem langjährigen Prozess entwickelten institutionelle und bürgerschaftliche AkteurInnen eine neue raumgreifende Politikkultur für den Stadtteil. Mittlerweile wirbt Marxloh als Modemekka für festliche Abend– und Hochzeitsmode und durch die Kreativen von Made in Marxloh über die Stadtgrenzen hinaus für die Internationalität des gesamten Ruhrgebiets.
So zeigte es sich als kluge Entscheidung, dass Aslı Sevindim mit dieser Herkunft, ihren interkulturellen Erfahrungen und ihrem historischen Bewusstsein zur künstlerischen Direktorin des Bereichs „Stadt der Kulturen“ der Kulturhauptstadt RUHR.2010 berufen wurden. Wer versucht, ihr das Etikett der „doppelten Quotenfrau“ in der ansonsten männlichen Direktorenriege anzuheften, verkennt ihr Engagement und ihre Visionen. Sie setzt sich mit ihren Positionen zu Integration und Bildung, zum Tragen des Kopftuchs oder zur doppelten Staatsbürgerschaft nachdrücklich ein für eine selbstverständliche Kultur der Stadt, in der verschiedene Herkünfte, kulturelle Vermischungen und Vielstimmigkeiten den anerkannten Normalfall darstellen.
Seit dem 1. Juli 2019 ist Aslı Sevindim Abteilungsleiterin der Abteilung „Integration“ im Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen. Sie löste Aladin El-Mafaalani ab.
Wilhelmstraße, 47169 Duisburg-Marxloh
Eiscafe Felleti
Sevindim, Aslı: Candellight Döner. Geschichten über meine deutsch–türkische Familie, Berlin 2005.
Stadt Dinslaken, Der Bürgermeister/ Gleichstellungsstelle (Hg.), Die vergessenen Frauen – Arbeitsmigrantinnen der ersten Zuwanderungsgeneration im Ruhrgebiet, von Margarete Spajic/ Yasemin Yadrigarolu (Bear.), Dinslaken 2010, S. 30-31.