Der Genuss von Tabak ist am Niederrhein seit etwa 1629 bekannt, zunächst hauptsächlich in geschnupfter Form und durch Rauchen in der (Ton)Pfeife – übrigens auch von Frauen, wie aus Verboten für westfälische Frauen-Stifte geschlossen werden kann. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts wurde Rohtabak zu Rauchtabak verarbeitet und seit Mitte des 19. Jahrhunderts siedelten sich am Niederrhein Zigarrenfabriken an. In Orsoy wurde die Zigarrenproduktion für längere Zeit eine der wichtigsten Industrien. Der Standort war aus mehreren Gründen günstig: Der Rhein war eine gute Verkehrsanbindung und als die Textilindustrie in Folge von Konkurrenz um ca. 1815 niederging, gab es Arbeitskräfte und leer stehende Produktionsräume. Vor allem aber waren die Arbeitskräfte im ländlichen Raum billig, worauf die Zigarrenindustrie mit ihrem sehr arbeitsintensiven Handwerk angewiesen war. Die Abwanderung männlicher Arbeitskräfte in die Schwerindustrie Duisburgs begünstigte diese Entwicklung zusätzlich. Ehemalige Tuchfabrikanten wie Lüps wagten 1815 mit der Zigarrenherstellung einen Neubeginn. Bald folgten weitere Fabrikationsgründer wie Hagemann, Ketels, Kirking, Bierhaus und Kersken.
Um die Wende ins 20. Jahrhundert beschäftigte die Zigarrenindustrie in acht Betrieben 300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, 1909 waren es 411. Mittlerweile arbeiteten 75 Prozent aller Erwerbstätigen in Orsoy in den Zigarrenfabriken. Für 1895 ist ein Frauenanteil in der Tabakindustrie von 59 Prozent nachgewiesen. Die Arbeit von Frauen, als Heim- und Fabrikarbeit steht dabei in einer langen Tradition. Sie fand in den Tuch- und Tabakfabriken statt. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Tabakfabriken in Orsoy schlossen, fanden Frauen in den Zwirnereien neue Arbeitsplätze.
Das Frauengeschichtsprojekt Rheinberg konnte vier Zeitzeuginnen der Jahrgänge 1920-1931 ausführlich interviewen, die in dem Zeitraum von 1935 bis 1956, teilweise mit Unterbrechungen, bei der Firma Bierhaus und deren Nachfolgern arbeiteten. Für sie, die im Alter von 14 bis 18 Jahren in den Betrieb kamen, stellte sich trotz des niedrigen Lohnes die Arbeit dennoch nicht als Ausbeutung dar: Sie hatten Arbeit. Sie konnten das nötige Zubrot für die Familie verdienen und sich selber etwas leisten. Und sie fühlten sich unter den Arbeitskolleginnen wohl. Die interviewten Frauen erinnerten sich durchweg positiv an die Geselligkeit und die gute Kameradschaft. Die Arbeit bot ihnen eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber den Eltern. Gespräche bei der Arbeit drehten sich ums Wochenende, Tanzen und Liebschaften. Tanzen am Wochenende war das beliebteste Freizeitvergnügen. Dabei durfte das junge Mädchen aus Walsum bei „Änne“ in Orsoy auch schon mal übernachten, sonst hätte sie sich dieses Vergnügen nicht erlauben können.
Später in Kriegs- und Nachkriegszeiten wurde bei der Arbeit ausgetauscht, wie sich der Alltag im Chaos des Zusammenbruchs am besten organisieren ließ.
In der Abteilung von Frau K. fand die Arbeit mit 40 bis 50 Frauen in einem großen Raum statt. Sie saßen an langen Tischen, die Zigarrenrollerinnen an den langen Seiten, die Wickelmacherin vor Kopf. Das Sprechen bei der Arbeit war „eigentlich“ verboten, wie Frau D. erzählte, wurde aber – mit einer Ausnahme – von allen Meistern geduldet: Einer liebte sogar den Gesang der Frauen bei der Arbeit. Der unbeliebte Meister hingegen kontrollierte nicht nur durch ein Loch in der Decke, ob gesprochen wurde, sondern maßregelte die Frauen auch bei seinen üblichen Kontrollgängen durch die Reihen. Wenn die „Wickel schlecht“ waren oder eine Zigarre zu schwer,„schmiss er sie raus“, wie sich Frau G. ausdrückte. Er warf auch Zigarren raus, die in Ordnung waren, um den Akkord zu brechen.
Als einzige der Interviewten absolvierte Frau D. eine Lehre bei der Firma Bierhaus. Später arbeitete sie als Deckblattrollerin. Sie stand damit in der Hierarchie der Tätigkeiten nur noch unter den Sortierern und wurde besser bezahlt als Entripper und Wickelmacherinnen. Ihre Bezahlung richtete sich nach der Tätigkeit und der produzierten Stückzahl. So verdiente sie 1947 in sechs Monaten 331,75 DM (Deutsche Mark), zusätzlich dazu 55 DM Akkordzulage.
Vor dem Zweiten Weltkrieg konnte man im Akkord 15 Reichs-Mark in der Woche verdienen. Nach dem Krieg erwirtschaftete eine Arbeiterin mit 3.000 Wickeln bei Zigarren einen Tageslohn von 9 DM. Obwohl durch die Staubentwicklung des Tabaks gesundheitlich und durch eine tägliche Arbeitszeit von neun Stunden kräftemäßig belastet – hinzu kam die Anreise mit dem Fahrrad oder der Fähre aus Walsum – erinnerten die Tabakarbeiterinnen ihre Zeit bei Bierhaus positiv. Herausgestellt wurde der zweiwöchige Betriebsurlaub und das Urlaubsgeld. Erinnert wurde auch der monatliche „Hausarbeitstag“, der gesetzlich gewährt wurde.
Die Interviewpartnerinnen betonten die soziale Seite der Arbeit. In ihren Erinnerungen kam dem privaten Lebensbereich der gleiche Stellenwert zu wie der Arbeit. Alle Frauen vereinbarten die außerhäusliche Erwerbsarbeit mit Familienpflichten, sie halfen in den elterlichen Familien und pflegten kranke Elternteile. Frau Kramer resümierte:„Gott sei Dank, alle, die wir gearbeitet haben, kriegen jetzt \ne Rente!“
Anne Drell und Hella Gilles/ Frauengeschichtsprojekt Rheinberg
Orte:47493 Rheinberg
Literatur:Streiflichter zur Rheinberger Frauengeschichte: Eine Dokumentation des Rheinberger Frauengeschichtsprojektes in Zusammenarbeit mit der Gleichstellungsstelle der Stadt Rheinberg, hg. v. d. Gleichstellungsstelle der Stadt Rheinberg in Verbindung mit dem Frauengeschichtsprojekt Rheinberg, Rheinberg 2003.
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