„M. D.u.H. [Meine Damen und Herren!]Sie sind gewählt aufgrund eines n e u e n Wahlrechts, des freiesten der Welt (Hervorhg. im Text). Die Stadtverordnetenversammlung, die Sie in ihrer Gesamtheit bilden, hat infolgedessen eine so vollständig andere Zusammensetzung als bisher, dass Sie nicht als bloße Nachfolgerin der alten Stadtverordnetenversammlung angesehen werden kann, sondern als etwas von ihr wesentlich verschiedenes neues. Für die Geschichte Gelsenkirchens ist ein neues Blatt aufgeschlagen“ [1]
Mit diesen Worten begrüßte der neue Oberbürgermeister Carl von Wedelstaedt die Stadtverordnetenversammlung. Sie war am 2. März 1919 zum ersten Mal nach dem allgemeinen, gleichen, freien Wahlrecht für Gelsenkirchen gewählt worden war.
Als liberaler preußischer Beamter zog von Wedelstaedt eine Traditionslinie hin zur Städteordnung des Freiherrn vom Stein aus dem Jahre 1808 und ihrer Konzeption kommunaler Selbstverwaltung. Und in der Tat: Die Städteordnung des Freiherrn vom Stein definierte alle Bürger als vor dem Staat gleich (StO §§ 32-33): Sie waren Individuen, die als stimmfähige Bürger mit einer gleichen Stimme ausgestattet waren, ohne Bezug zu Stand (Adelige, Geistliche, Bürger), zu Zünften, Korporationen (z.B. Universitäten) oder Religion (auch Juden duften wählen) (StO § 73, vgl. auch § 19). Die hier formulierte „Gleichheit“ war getragen von dem aufklärerischen Gedanken, dass sich die Menschen nicht länger durch Stand, Herkunft, Religion unterschieden.[2] Doch sie bezog sich keinesfalls auf die Kategorie „Geschlecht“. Dazu war zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine bürgerliche Geschlechterordnung zu wirkmächtig, die allein den Mann als Wesen der Öffentlichkeit und als zur Kulturarbeit Bestimmten definierte.[3]
Ein neues Stadtparlament
Von den in das Stadtparlament gewählten 66 Menschen hatten nur sechs Personen bereits zuvor ein Amt als Stadtverordnete innegehabt, d.h. 60 waren Neulinge. Darunter waren nun fünf Frauen: Für die 24-köpfige Zentrumsfraktion die Lehrerin Regina Rath und Maria Vonderhagen, die Frau des Rektors Vonderhagen. Unter den 18 Gewählten der Mehrheitssozialdemokratie befanden sich Emma Bublitz (Ehefrau) und Wilhelmine Vorreiter (Ehefrau), zu den acht Abgeordneten der Deutschen Volkspartei gehörte die Lehrerin Ottilie Halfmann. Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei, die Polen-Partei, die Deutsch Nationale Volkspartei und die Partei der Kriegsgeschädigten wurden nicht durch eine Frau vertreten.
Wenn man den zeitgenössischen Begriff der „Revolution“ in Bildern zu fassen sucht, dann ist die Zusammensetzung dieses neuen Stadtparlaments ein treffliches Beispiel, um die lokalgeschichtlichen Auswirkungen großer politischer Ereignisse greifbar zu machen: zeigt sie doch eine weitgehende Umwälzung in der Zusammensetzung kommunaler Entscheidungsträger und nunmehr auch Entscheidungträgerinnen.
Klassenfragen
Doch konzentriert man sich allein auf das Frauenwahlrecht und den Gegensatz von Frauen und Männern, so blitzt nur ein Aspekt der tiefgreifenden gesellschaftlichen Transformation 1918/1919 auf. Es ging nicht nur um Geschlechterfragen, sondern auch um Klassenfragen. Denn bis zur Einführung des neuen Wahlrechts durch den Rat der Volksbeauftragten am 12. November 1918 wählten die Gelsenkirchener nach dem Dreiklassenwahlrecht: die Wahlberechtigten waren nach der Höhe der von ihnen zu entrichtenden direkten Staatssteuern in drei Abteilungen eingeteilt, die jeweils ein Drittel der Wahlmänner wählte. Dies hatte zur Folge, dass landesweit durchschnittlich auf die erste Klasse 3,6 %, die zweite 13,1 % und auf die dritte 83,3 % der Urwähler fielen[4], im Ruhrgebiet war dieses Verhältnis noch extremer: Wie Daniel Schmidt gezeigt hat, war im Amt Horst-Emscher die Zeche Nordstern als größter Steuerzahler allein wahlberechtigt in der ersten Klasse, dominierte die Gemeindevertreter und bestimmte die Geschicke der Gemeinde.[5] Zuvor hatten zumeist Bergwerksdirektoren, Fabrikbesitzer, Rittergutsbesitzer, Gewerbetreibende, Kommerzienräte, Bergräte, Schulleiter, Verbandssekretäre die Kommune, das Königreich Preußen und das Deutsche Reich vertreten. Nun fanden sich vermehrt auch Bergleute, Schlosser, Lehrerinnen, Gewerkschaftssekretäre, Konsumgenossenschaftsmitglieder und Ehe- bzw. Hausfrauen.
Leider liegen bislang von den ersten weiblichen Gelsenkirchener Stadtverordneten nur spärliche biografische Angaben vor:
Die ersten Gelsenkirchener Stadtverordneten
So war Regina Rath Lehrerin an der Josefschule, der Johannes- und der Albertusschule in Schalke.
Maria Vonderhagen war im Deutschen Katholischen Frauenbund aktiv und hatte einen Namen als sozial engagierte Katholikin. Sie war zudem aktiv beim Aufbau der katholischen St. Georgs-Gemeinde. Sie hatte den verwitweten Rektor Vonderhagen mit fünf Kindern geheiratet, ein gemeinsames Kind kam später noch dazu.
Ottilie Halfmann, 1872 in Gelsenkirchen geboren, zog für die Deutsche Volkspartei in die Stadtverordnetenversammlung. Sie entstammte einer alteingesessenen Familie. Ihre Schwestern Hulda und Emilie unterrichteten an der Gothe-, bzw. Gneisenauschule, Ottilie gehörte von 1913 bis 1925 dem Lehrkörper der evangelischen Körnerschule in Bulmke an.
Für die Mehrheitssozialdemokratie kam Emma Bublitz in die Stadtverordnetenversammlung. Sie wurde 1887 in der Nähe von Ortelsburg geboren und verstarb 1966 in Hagen. Verheiratet war sie mit Karl Bublitz , Kassierer für die SPD. Sie hatte vier Kinder: Eva, Gustav, Karl und Heinz. Die Familie wohnte auf der Königgräzer Str. 48. Emma Bublitz hatte sich während des Krieges um die Verpflegung von hungernden Kindern gekümmert. Später nahm sie an der Kieler Kinderrepublik teil und an der Reichsfrauenkonferenz in Kiel, auf einem Foto sieht man sie zusammen mit Elisabeth Selbert. Einer ihrer Söhne, Gustav, starb mit 16,5 Jahren, ebenso wie ihr Mann, bei einem Bergbauunglück.[6] Sie saß nur für eine Wahlperiode im Rat.
Wilhelmine Vorreiter, geb. 19.09.1889, war bis 1933 Stadtverordnete und Provinzial-Landtagsabgeordnete der SPD.[7] Sie war während des Nationalsozialismus drei Monate inhaftiert. Wilhelmine Vorreiter gehörte zum engen Kreis sozialdemokratischer Parteimitglieder, die sich bereits zwei Tage vor dem Ende des Kaiserreichs am 6. November in der Schankwirtschaft „Tiergarten“ mit dem Oberbürgermeister dem Polizeipräsidenten getroffen hatten, um über anstehende Aufgaben im Falle eines Umsturzes zu beraten – ein Zeichen, dass im Falle eines Umsturzes ein vorausschauendes Planungsinteresse an der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung bestand, in das auch die Sozialdemokratie einbezogen werden wollte bzw. sollte.[8] Dieser Hinweis auf Frau Vorreiter bildet ein wichtiges Indiz für die Aktivitäten von Frauen in den politischen Transformation seit Anfang November 1918 – auch wenn sie nicht als Funktionsträgerinnen in die sich allerorten bildenden Arbeiter- und Soldatenräten einbezogen wurden. Die gebürtige Wittenerin Rosi Wolfstein bildete als Mitglied des Düsseldorfer Arbeiter- und Soldatenrates eine seltene Ausnahme.
Diese fünf Frauen konnten nun die von der Gemeindeordnung festgelegten kommunalen Aufgabenfelder mitgestalten. Dazu gehörten: die öffentliche Gesundheitsfürsorge, die Volksbildung, die Lebensmittelversorgung, die Arbeitslosenfürsorge, das Wohnungswesen, die Stadtentwicklung, die Verkehrspolitik, die Rechtsauskunft und das Statistische Amt.
So war die Stadtverordnete Frl. Rath Mitglied im Badeanstalt-Ausschuss. Maria Vonderhagen gehörte dem Musik- und Theater-Ausschuss an. Die Stadtverordnete Wilhelmine Vorreiter wirkte im Musik- und Theater-Ausschuss, im Gas-Ausschuss und im Lebensmittelausschuss. Emma Bublitz war Mitglied in der Städtischen Armenverwaltung. Zudem wurden Emma Bublitz und Ottilie Halfmann in die städtische Schuldeputation gewählt.
Es finden sich im Rechenschaftsbericht der Stadt noch weitere Namen von Frauen, die an der kommunalen Selbstverwaltung partizipierten: Frl. Dora Robert saß im Sozialen Ausschuss und im Gesundheitsausschuss. Frau Kommerzienrat Hedwig Burgers und Frau Rektor Weber wirkten ebenfalls im Schulausschuss. Im Schulausschuss für die höheren Lehranstalten saßen zudem die Ehefrau Dr. Himmelreich und die Ehefrau Sewig.[9]
Frauen als Staatsbürgerinnen
Die Wahl zur Stadtverordnetenversammlung war vorerst die letzte einer Reihe von Wahlen zu einer Republik, bei der den Frauen zum ersten Mal als Staatsbürgerinnen die gleichen Rechte wie den Männern garantiert worden waren: am 19. Januar erfolgte die Wahl zur verfassungsgebenden Nationalversammlung, am 26. Januar die Wahl zur Verfassungsgebenden Preußischen Landesversammlung. Und am 23. Februar 1919 wurde in Gelsenkirchen die Stadtverordnetenversammlung gewählt. Angesichts des Wahlkampfes vermeldete man in Gelsenkirchen nach den direkten Umsturztagen ab Dezember 1918 eine „lebhafter werdende politische Tätigkeit unter den einzelnen Bevölkerungsschichten der Stadt, an der nunmehr im Gegensatz zur Vergangenheit auch die Frauen teilnahmen.“[10]
Zu der hier interessierenden Zeit zwischen 1850 und 1919 war Gelsenkirchen eine Ansammlung von Industriedörfern, schöner formuliert: eine Stadt, die erst mit der Zuwanderung in Folge des Bergbaus und der Industrialisierung seit den 1860er entstanden war und im Jahre 1875 Stadtrechte erhielt. 1903 wurden Bismarck (bis 1900 Braubauerschaft), Schalke, Hessler, Bulmke, Hüllen und Ückendorf eingemeindet. 1918 zählte die Großstadt 170.477 Einwohner. Erst 1928 entstand schließlich die Stadt Gelsenkirchen in heutiger Gestalt, als sie sich mit der Stadt Buer und dem Amt Horst-Emscher vereinte. Gelsenkirchen in der heutigen Form verdankt sich ausschließlich dem montan-industriellen Komplex. Das spielt direkt hinein in die Frage nach dem Frauenwahlrecht – aber um dies zu ergründen müssen wir Gelsenkirchen, Buer und Horst verlassen, um ein wenig durch Zeit und Raum zu reisen.
Für uns heute – hineingewachsen in eine Bundesrepublik Deutschland und ihre demokratische Verfassung – gehört das 1918 erlassene Recht für Frauen zu wählen zu unserem Alltag. Wir nehmen es universell wahr und als einen Schritt hin zur Geschlechterdemokratie. Anders als bei geschlechtsspezifischer Entlohnung, bei Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuches oder aktuell beim Paragraphen 219a und der ihm zugrundeliegenden Vorstellung von unmündigen Frauen hinsichtlich ihrer sexuellen wie körperlichen Selbstbestimmung sehen wir uns heute zumindest staatsbürgerlich als gleichberechtigt. Doch im 19. Jahrhundert wurde diese Konzeption von Gleichheit von den wenigsten Frauenstimmrechtlerinnen und ihren Unterstützern geteilt oder gar angestrebt.
Frauenbewegung 1848 und ein weitreichendes Vereinsverbot
Die Wurzeln unseres heutigen Verständnisses von Geschlechtergleichheit reichen zurück in die Revolution von 1848. Frauen wie die in Hiddinghausen bei Sprockhövel geborene Mathilde Franziska Anneke (1817-1884) hatten Forderungen nach Freiheit und Gleichheit mit eigenen Forderungen nach Gleichberechtigung verknüpft. 1847 schrieb sie: „Warum erscheinen die Ansichten, die den Männern seit Jahrhunderten bereits angehören durften, einem Staate gerade bei den Frauen so sehr gefährlich? … Weil … wir gleich berechtigt sind zum Lebensgenusse wie unsere Unterdrücker; dass diese es nur waren, die die Gesetze machten und sie uns gaben, nicht zu unserem, nein zu ihrem Nutzen …“ Die Ideale der Aufklärung radikal auf ihr Geschlecht anwendend forderte sie: „Bleibt länger nicht die Betrogenen …“[11] Mathilde Franziska Anneke, die auch selber aktiv kämpfend in die 1848 Revolution eingriff und deshalb ins amerikanische Exil gehen musste, blieb mit ihren Forderungen nicht allein. Und so erließ Preußen als Reaktion auf die freiheitlichen, aufklärerischen Ambitionen der Frauen 1850 ein Vereinsgesetz, dass ihnen fortan den Zusammenschluss in politischen Vereinen und die Koalition mit anderen Organisationen untersagte. Es verbot ihnen sogar, an politischen Veranstaltungen teilzunehmen. Als politisch im Sinne des Vereinsgesetzes galt alles, was Verfassung, Gesetzgebung und „die staatsbürgerlichen Rechte der Untertanen“ betraf. Dieses Vereinsgesetz sollte bis 1908 Gültigkeit besitzen und sich vor allem nachteilig für sozialdemokratische Frauen auswirken, wie eine Pressemeldung vom 25. März 1889 aus Bochum Weitmar überliefert. Zu lesen ist dort: „… wurde eine gestern nachmittag in Weitmar stattgehabte Volksversammlung, in welcher der sozialdemokratische Agitator Wesch aus Krefeld … redete, bald nach Beginn polizeilich aufgelöst, weil die Frau des Lokalbesitzers den Saal betreten hatte (Nach dem Gesetz dürfen weder Bewaffnete, noch Frauen oder Kinder in einer politischen Versammlung anwesend sein.)“.[12] Dies lässt sich eindeutig als Warnung an Frauen, aber auch an Männer lesen, die ihre Frauen zu Versammlungen mitnehmen wollten.
Anderswo konnten sich Frauen durchaus organisieren, und so flossen die der Aufklärung verbundenen, egalitären Positionen einer Mathilde Franziska Anneke auch in den 1860 in Leipzig gegründeten „Allgemeinen Deutschen Frauenverein“ ein, der als Beginn der organisierten deutschen Frauenbewegung gilt. Er setzte sich für eine bessere Mädchen-, Frauen- und Lehrerinnenausbildung sowie die Anerkennung einer außerhäuslichen Berufstätigkeit ein. Lehrerinnen forderten zudem rechtliche wie finanzielle Gleichstellung im Lehrerberuf. In der Sprache der Zeit ging es um „Fraueninteressen auf sittlichem, sozialem, beruflichem, wirtschaftlichem und rechtlichem Gebiet“.[13] Die Frauenbewegung des Kaiserreichs hatte als Bildungsfrage Fahrt aufgenommen, Forderungen politischer Partizipation wurden zunächst unterschiedlich intensiv bearbeitet.
Stimmrechtsaktivitäten im Kaiserreich
Die wahlrechtspolitischen Aktivitäten lassen sich für das rheinisch-westfälische Industriegebiet entlang politisch-konfessioneller Lager systematisieren. Nur wenige Protagonistinnen verließen in Frauenfragen die Deutungsmuster und Frontstellungen ihres sozialen Milieus. Zugleich blieben sie innerhalb ihres jeweiligen Milieus jedoch mit frauenbewegten Forderungen höchst umstritten. Als ein Beispiel für das katholische Umfeld lassen sich Frauen wie Albertine Badenberg (1865-1965) aus Steele an der Ruhr[14] oder Elisabeth Nettelbeck aus Gelsenkirchen[15] nennen, beide Lehrerinnen, die Leitungsaufgaben im 1903 gegründeten Katholischen Deutschen Frauenbund übernahmen.
Das katholische Milieu
1916 konstituierte sich der Katholische Deutsche Frauenbund auch in Gelsenkirchen, ab 1923 arbeitete Elisabeth Nettelbeck dort als Sekretärin.[16] Elisabeth Gnauck-Kühne, Mitbegründerin des Katholischen Deutschen Frauenbundes, hatte bereits mit Sinn für soziale Differenz- und Integrationslinien frauenbewegt formuliert: „Für die Unbemittelten ist die Frauenfrage vorwiegend eine Brotfrage, für die Bemittelten eine Bildungsfrage, für beide eine Rechtsfrage.“[17] Mit Positionen wie dieser behaupteten die Protagonistinnen der katholische Frauenbewegung ihre Eigenständigkeit. Vertreter des Volksvereins für das katholische Deutschland oder des Caritasverbandes behaupteten hingegen weiterhin ernsthaft, dass die sozialen Wünsche und Bestrebungen der Frauen „in der Hand der Männer gut aufgehoben sind, und daß auch für die Frau das Hinaustreten aus dem Hause in die Sitzungssäle und Wahlversammlungen ein sehr zweifelhafter Tausch wäre.“[18]
Das protestantische Milieu
Evangelische Frauen, die sich ab 1899 im „Deutschen Evangelischen Frauenbund“ organisierten, forderten ein Frauenstimmrecht bei kirchlichen und kommunalen Gemeindewahlen. Sie lehnten jedoch staatspolitische Gleichberechtigung ganz national-protestantisch im „Interesse des Vaterlandes“ ab. Für sie war das politische Frauenstimmrecht angesichts der „innenpolitischen Verhältnisse und der noch vielfach mangelnden Reife der Frauen in absehbarer Zeit kein Segen für unser deutsches Volk“. Im Gegenteil: Sie sahen darin „eine im höchsten Grade bedenkliche Stärkung der staatsfeindlichen Parteien“.[19]
Vaterlänische Frauenvereine
Im Gelsenkirchener Adressverzeichnis von 1913 finden sich keine Hinweise auf einen expliziten politischen Frauenstimmrechtsverein wie z.B. eine lokale Gründung des „Vereins für Frauenstimmrecht“ oder den „Verein Frauenwohl“. Hier finden sich eine Vielzahl konfessionell gebundener Frauenvereinigungen und vor allem: sechs unterschiedliche Vaterländische Frauenvereine, für jede Gemeindevertretung einen. Ansprechpartnerinnen waren für den Stadt- und Landkreis Gelsenkirchen Frau Kommerzienrat Burgers, für Gelsenkirchen-Altstadt Frau Bischoff, für Schalke Frau Bürgermeister Klose, für Bismarck Frau Bürgermeister Antoni, für Bulmke-Hüllen Frau Direktor Schütze und für Ueckendorf Frau Bürgermeister von Wedelstedt, allesamt Frauen der lokalen Wirtschafts- und Verwaltungseliten. Schon die im Vergleich zu anderen Frauenaktivitäten beeindruckende Aktenüberlieferung dokumentiert sinnenfällig ihre Bedeutung in der kommunalen Fürsorge.[20] Die Frage staatsbürgerlicher Gleichheit als politisches Recht stellte sich für diese Frauen nicht, denn sie partizipierten anerkannt auch ohne explizite Wahlberechtigung, seit 1870 in Gelsenkirchen vereinsmäßig organisiert, an der Stadtgesellschaft. Sie hatten sich ein großes Betätigungsfeld mit hohem symbolischen Kapital erschlossen. Inwieweit diese Frauen aus der bürgerlichen städtischen Führungsschicht individuell für ein Stimmrecht votierten, muss offen bleiben.
Radikale Positionen
In Gelsenkirchen lässt sich bislang keine Vereinigung der „radikalen“ Frauenbewegung nachweisen, die in der Tradition der Aufklärung stehend das allgemeine Wahlrecht als Menschenrecht, als „fundamentales“ Recht forderte.[21] Das war anders in frühindustrialisierten Städten wie Witten oder den alten Hansestädten am Hellweg wie Essen oder Dortmund, in denen sich ein liberales Wirtschaftsbürgertum etabliert hatte. Es lud Minna Cauer, die exponierteste Vertreterin des „radikalen“ Flügels, zu Vorträgen ein, zum Beispiel nach Dortmund. Im zutieft patriarchal-hierarchisch strukturierten montanindustriellen Komplex Gelsenkirchen – so die hier formulierte These – hatte sich kein tonangebendes liberales (Wirtschafts)bürgertum entwickeln können, das sich den Ideen der „radikalen“ Frauenbewegung offen gegenüber zeigte. Das heißt jedoch nicht, dass es in Gelsenkirchen keine Sympathisantinnen der „Radikalen“ gab: So hat Ingeborg Boxhammer ein diesem Flügel der Frauenbewegung zugehörendes feministisch-lesbisches Dentistinnen-Netzwerk zwischen Essen, Gelsenkirchen und Bochum ausgemacht: dazu gehörte Helene Wolff, die 1903 ihre Zahnarzt-Praxis auf der Gelsenkirchener Bahnhofstraße 72 a eröffnete. Margarete Herz und Luise Maiberg praktizierten in Bochum auf der Bahnhofstraße 31. Margarete Herz wohnte mit ihren Schwestern Lina und Sophie Herz in Essen am Limbecker Platz.[22]
Deutsche Vereinigung für Frauenstimmrecht
Es gab neben den konfessionellen Fruenvereinigungen und dem „radikalen“ Flügel noch eine weitere Bewegung für Frauenstimmrecht während des Kaiserreichs: Nicht ohne Gespür für kluges strategisches politisches Vorgehen gründete die Soziologin Li Fischer-Eckert aus dem Hagener Bürgertum im Oktober 1911 die „Deutsche Vereinigung für Frauenstimmrecht.“ Sie wollte überkonfessionelle Sammlungsbewegung für all jene sein, die die Forderung der Radikalen nach einem gleichen Wahlrecht nicht mittragen konnten oder wollten, weil diese zu sehr mit der Sozialdemokratie verbunden werden konnte. Die „Deutsche Vereinigung für Frauenstimmrecht“ vertrat ein Frauenwahlrecht im Rahmen des Dreiklassenwahlrechts, „unter den gleichen Bedingungen, wie Männer es haben und haben werden.“[23] Sie hielt sich gleichzeitig mit dieser Formulierung strategisch eine Option auf ein allgemeines Wahlrecht offen. Li Li Fischer-Eckert ist als eine hoch engagierte Wahlkämpferin überliefert, die ab November 1918 quer durchs rheinisch-westfälische Industrierevier reiste, von Hamm bis Duisburg. Am 9. Januar 1919 sprach sie auch auf einer Veranstaltung der Deutschen Demokratischen Partei im Bahnhofshotel. Die promovierte Nationalökonomin war im übrigen die erste Forscherin überhaupt, die sich mit den Lebensbedingungen von Arbeiterfrauen im Ruhrgebiet befasste. Ihre Forschung, angelegt als teilnehmende Beobachtung und empirischer Erhebung in Duisburg-Hamborn, zählt zu den Meilensteinen der frühen Soziologie.[24]
Sozialdemokratisches Milieu
Für das Frauenstimmrecht engagierten sich somit verschiedene Bewegungen, die sich im bürgerlichen Lager als national-konservativ, gemäßigt bis fortschrittlich-radikal verstanden und die ihre Forderungen zumeist im Rahmen des Dreiklassenwahlrechts verstanden wissen wollten. Bis auf die „Radikalen“ grenzten sich alle entschieden von der proletarischen Frauenbewegung ab. Das ist mentalitätsgeschichtlich kein Wunder, angesichts der Schreckensszenarien, die bürgerlich-konfessionelle Milieus jahrzehntelang heraufbeschworen hatten. Sozialismus und Liberalismus standen hier für das Ende der Zivilisation, für die Auflösung der göttlichen und menschlichen Ordnung, für Alkoholkonsum, Sittenverfall, Selbstsucht.[25] Besonders schwer wog ihre vermeintliche „Feindschaft gegen alle, die menschlichem und göttlichem Gesetz untertan bleiben wollten“.[26]
Die SPD suchte – im Gegensatz zu anderen Parteien – bereits früh Frauen zu organisieren. Mit dem Erfurter Parteitag 1891 gelangte das Wahlrecht „ohne Unterschied des Geschlechts“ in ihr Parteiprogramm.[27] Ab 1902 bereisten immer wieder führende Sozialdemokratinnen wie Louise Zietz oder Klara Zetkin das rheinisch-westfälische Industriegebiet, um unter den Frauen für die Sozialdemokratie zu werben.[28] Erste Bemühungen um eine sozialdemokratische Frauenbewegung lassen sich in der Wahlkreisorganisation Bochum-Gelsenkirchen wahrscheinlich um 1904/ 1905 beobachten, zu einer Zeit, als auch Minna Deuper (1868-1937) mit einer Einladung in das Lokal „Borussia“, als „geselliges Beisammensein“ getarnt, in Essen eine sozialdemokratische Frauenbewegung zu sammeln begann.[29] An einer Frauenversammlung in Gelsenkirchen mit der Essenerin Agnes Blum am 14. April 1907 beteiligten sich 70 Frauen und 130 Männer.[30] 1908, nach Aufhebung des Vereinsverbotes, wurde der „Sozialdemokratische Frauenverein für Gelsenkirchen und Umgebung“ gegründet. Für den Agitationsbezirk Westliches-Westfalen zählte man 1910 bei 20.036 Mitgliedern insgesamt 4.257 weibliche.[31]
Auf dem SPD-Parteitag in Nürnberg im September 1908 berichtete Lina Endmann aus dem Vest Recklinghausen, zu dem damals noch Horst-Emscher und Buer gehörten, über die lokale SPD-Frauenarbeit: „Ich komme aus dem schwärzesten Winkel, wo wir am allerschwersten zu kämpfen haben. Man nennt unsern Wahlkreis deshalb auch das schwarze Finsterland. Sogar die Kanzel wird dort zu politischen Zwecken gebraucht. Die Priester gründen Mütter- und Elisabethvereine, in die die Frauen eintreten müssen. Diese selbst müssen am Altare schwören, keinen Alkohol mehr zu genießen und der Sozialdemokratie nicht beizutreten. … Trotz alledem hat die Frauenagitation bei uns festen Fuß gefaßt und 353 Frauen gehören unserer Organisation an.“[32]
Die sozialdemokratische Wahlrechtsposition gab Clara Zetkin 1907 vor: „Das Wahlrecht hilft den bürgerlichen Frauen, die Schranken niederzureißen, die in Gestalt der Vorrechte des männlichen Geschlechts ihnen Bildungs- und Tätigkeitsmöglichkeit einengen. Es rüstet die Proletarierinnen in dem Kampfe, den sie für die Erringung vollen Menschentums gegen Klassenausbeutung und Klassenherrschaft führen.“[33]
Wahlrechtsmanaifestation auf der Straße
Frauen hatten sich sowohl 1906 als auch 1910 an den sozialdemokratischen Kampagnen für die Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts beteiligt. Ein schönes Beispiel zu zeigen, mit welchen Widrigkeiten und politischen Verhältnissen die Sozialdemokratinnen dabei zu kämpfen hatten, stellt die (wahlrechts)politischede Manifestation des Arbeiterradvereins „Einigkeit“ aus Bergkamen dar. 1906, während der Kampagne gegen das Dreiklassenwahlrecht, machte er sich per Rad in Zweierreihen auf den Weg nach Dortmund – mit weiblichen Mitgliedern, die weiße Kleider und rote Schärpen trugen.[34] Und er verstieß damit gleichermaßen gegen das Vereinsverbot, das Frauen die Teilnahme an politischen Veranstaltungen verbot und gegen das Versammlungsverbot, das politische Manifestationen auf der Straße und vor allem das Fahrradfahren in Zweierreihen verbot.
Die sozialdemokratische Frauenbewegung blieb in unserer Region schwach und konkurrierte stets mit dem katholischen Zentrum um die Frauen.[35]
Während des 1. Weltkrieges konnte sie ein wenig von der Stimmung im Zuge der Kriegsmüdigkeit und von der zunehmenden „Salonfähigkeit“ der Sozialdemokratie im Zusammenhang mit der Burgfriedenspolitik und der Organisation der Heimatfront profitieren.
Zugespitzt lässt sich jedoch festhalten: Während 1908 sozialdemokratische Frauen bei politischen Aktivitäten „sogar auf den Klosetts“ überwacht wurden, wie die Essenerin Minna Deupner beklagte,[36] konnten sich zeitgleich von der Zensur völlig unbehelligt bürgerliche Frauen in Dortmund, Essen oder Witten in Stimmrechtsvereinen organisieren.
Zusammengefasst ergibt sich folgendes Bild:
Der radikale Flügel, mit seiner Basis im liberalen Bürgertum, argumentierte egalitär im Sinne einer nur unvollendeten Aufklärung und vertrat das Frauenwahlrecht als unteilbares Menschenrecht.
Die Sozialdemokratie leitete das Frauenwahlrecht nicht als ein Naturrecht ab, sondern sah es als „soziales Recht der Frauen“ (Clara Zetkin), das begründet sei in ihrem gesellschaftlichen Sein und Bewusstsein.
Der gemäßigte Flügel, ein Projekt bürgerlicher Bildungseliten, folgte differenztheoretischen Vorstellungen von den besonderen Fähigkeiten der Frauen für ein zivilisiertes Miteinander. Er vertrat bis zur Bewährung an der Heimatfront im Ersten Weltkrieg die Position, Frauen müssten sich staatspolitische Rechte erst „erarbeiten“ und sie müssten „herangeführt“ werden an Verantwortung.
Das katholisch-konfessionelle Milieu umfasste als Gesinnungs- und Weltanschauungsgemeinschaft sowohl bedeutende Teile der katholischen Arbeiterschaft als auch das katholische Bürgertum, also Kaufleute, Ärzt_innen, Rechtsanwälte, Lehrer und Lehrerinnen. Die Protagonist_innen vertraten gemäßigte Positionen und standen in Konkurrenz zur Sozialdemokratie. Die Frauenrechtlerinnen im katholischen Milieu waren Bildungsaufsteigerinnen, Lehrerinnen zumeist. Wenn sie wollten, konnten sie sich emanzipatorisch auch auf die Bibel beziehen, in der es im Brief des Paulus an die Galather heißt: „Hier ist kein Jude noch Grieche, hier ist kein Knecht noch Freier, hier ist kein Mann noch Weib; denn ihr seid allzumal einer in Christo Jesu.“ (3,28).
Der konservative Flügel dann, zumeist national-protestantisch gesinnt, lehnte ein politisches Stimmrecht und eine staatspolitische Gleichberechtigung angesichts der „innenpolitischen Verhältnisse und der noch vielfach mangelnden Reife der Frauen“ ab. Er sah darin „eine im höchsten Grade bedenkliche Stärkung der staatsfeindlichen Parteien“.[37]
Die Wahlrechtsfrage entspann sich innerhalb dieser Milieukontexte. Doch zugleich umfasste sie Konzepte von Geschlechterordnungen: Frauen und Männer sind unterschiedlich oder gleich; sie berührte strategische Vorstellungen: „Frauen können das“ oder „Frauen müssen erst herangeführt werden“. Sie zielte nicht zuletzt auf die politische Verfasstheit der Republik insgesamt, wenn sie mit der Polarisierung zwischen „gottlos“ oder „gottesfürchtig“ das Verhältnis von Staat und Kirche thematisierte.
Gleich, geheim, direkt, allgemein
Am 12. November 1918 entschied der sechsköpfige Rat der Volksbeauftragten aus Mehrheits- (MSPD) und Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD), die Wahl zur verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung nach dem gleichen, geheimen, direkten, allgemeinen Wahlrecht für männliche und weibliche Personen zu vollziehen.[38] Damit legte er die Grundlage für den Systemwechsel hin zur Republik und hin zur Geschlechterdemokratie.
Bereits am 13. November informierte die bürgerlich-protestantische Gelsenkirchener Allgemeinen Zeitung auf dem Titel über „Das Frauenstimmrecht in Deutschland“. Der Artikel, der wortgleich auch in Recklinghausen erschien, gab bereits den Interpretationshorizont zur Historisierung der Frauenwahlrechtsbewegung vor. Dazu entwickelte er eine kleine Geschichte der Frauenstimmrechtsbewegung, die bis in das antike Griechenland zurück verfolgt wird, mit der Intention, die Gewährung des allgemeinen Wahlrechts nicht als Ergebnis des Umbruchs, sondern in der Tradition des Kampfes um Bürgerrechte dastehen zu lassen. Fazit: „Das Frauenstimmrecht ist überhaupt nicht etwas so Neuartiges, wie man vielfach denkt.“ Im Gegenteil: „Durch die Mitarbeit, die die Frau allmählich in den Gemeindevertretungen und in der sozialen Fürsorge erlangte, ist ihr dann der Weg zur politischen Gleichberechtigung gebahnt worden. Immer wieder traten Versammlungen des Bundes deutscher Frauenvereine für das Frauenstimmrecht ein und in steigendem Maße nahmen sie Anteil an allen politischen Fragen, die auch nicht unmittelbar mit der Frauenbewegung zusammenhingen. Im Kriege hat die deutsche Frau in dieser Richtung gewaltige weitere Fortschritte gemacht. Sie hat sich in leitenden Stellungen auf allen Gebieten der Verwaltung bewährt, und es erregte keine Verwunderung mehr, als eine Frau als Leiterin mit in das Kriegsernährungsamt eintrat. So hat die großartige Kriegsarbeit der deutschen Frau sie als gleichberechtigte Mitkämpferin an der Seite des Mannes gestellt, und das politische Wahlrecht, das ihr nun gewährt werden soll, ist nur eine verdiente Anerkennung dieser Leistungen.“[39] Bis heute bestimmt diese Interpretation die Forschungen zum Frauenwahlrecht.
Zwischen dem Beschluss und der Wahl am 19. Januar lagen nur sechs Wochen, um 17.7 Millionen wahlberechtigter Frauen zu mobilisieren. Dies gelang vor allem den konfessionellen Frauenverbänden aufgrund ihrer eingespielten Organisationsstruktur und ihres klaren Feindbildes beeindruckend. Ein Flugblatt zur Mobilisierung der evangelischen Frauen spricht offen an, worum es nun gehen musste: „Habt Ihr auch zum größten Teil das Wahlrecht nicht erstrebt, jetzt müsst ihr Eure ungeheuere Verantwortung für Euer Volk erkennen und Euer Wahlrecht ausüben.“[40] Gerade die konservativen Parteien passten sich 1918 „erstaunlich schnell“ (Kirsten Heinsohn) den neuen Bedingungen an und mobilisierten wortgewaltig zur Wahl: „ Liebe Schwestern! Wir waren wohl der großen Mehrzahl nach Gegnerinnen des Frauenstimmrechts, nun uns aber die unerwünschte Last einmal aufgebürdet ist, gilt es nicht allein, sie geduldig aufzunehmen, sondern aus ihr herauszuholen, was unserem tiefgedemütigten Vaterlande irgend von Nutzen werden kann. […] Sozialdemokratie und Zentrum sind bereits scharf an der Arbeit. Erstere hat die Frau durch die Organisation, letzteres durch den Beichtstuhl in der Hand. Wir kennen solche Zwangsmittel nicht, freiwillig wollen wir unseren Männern als treue Gehilfinnen zur Seite stehen. Ihr deutschen Konservativen, helft uns, belehrt uns, erzieht uns für unsere neue Aufgabe. […] Auf, deutsche Frauen, tragt unseren Männern die Waffen herbei zu Streit und Sieg.“[41]
Und Magdalene von Tiling, die 1921 für die Deutsch-Nationale Volkspartei in den preußischen Landtag gewählt wurde, erklärte auf einer Tagung des erweiterten Reichsfrauenausschusses ihrer Partei: „Die deutschnationalen Frauen haben an dieser Volksgemeinschaft mitzuwirken, und nur der Gedanke an sie und an die Schäden, die zu heilen sind, nötigt sie, aus dem engbeschlossenen Einzelleben hervorzutreten. Es handelt sich nicht um irgendwelche Frauenrechte, sondern um ein Wirken in dem Sinn, daß die Frauen für Gesundbleiben oder Gesundwerden eintreten wollen, wo Krankheit herrscht, und dass sie an der Heilung mitwirken wollen.“[42] Mit der Absage an „irgendwelche Frauenrechte“ erneuerte sie die Frontstellung gegen die Frauenbewegung und sie machte keinen Hehl daras, dass ihr die Republik als eine Krankheit galt, die Frauen zu heilen hätten. Von hier bis zur rassistisch legitimierten Schwächung des Volkskörpers ist es nicht weit.
Für die konservativen protestantischen Frauen ging es um alles oder nichts. In diesem Fall nicht um Kaiser, Nation und Vaterland, sondern darum, einen kranken, gottlosen Staat aufzuhalten.
Auch in den katholischen Reihen wurde „schnell begriffen, daß es im wesentlichen von den Frauen abhängen würde, ob die neue Reichsverfassung christlich oder unchristlich sein würde.“[43] Der Katholische Deutsche Frauenbund entsandte Studentinnen, die in zahlreichen Vorträgen die Frauen von der Notwendigkeit überzeugten, dass Wahlrecht auch Wahlpflicht sei.
Bei der Wahl zur verfassungsgebenden Nationalversammlung lagen 1919 in Gelsenkirchen die Mehrheitssozialdemokrat_innen mit 42,2 Prozent vorn, gefolgt vom Zentrum mit rund 30 Prozent. Bei der Wahl zum Preußischen Landtag legten SPD und Zentrum noch etwas zu. Bei der ersten Kommunalwahl nach neuem Modus ging das Zentrum als stärkste Fraktion hervor, gefolgt von den Mehrheitssozialdemokraten und der Unabhängigen Sozialdemokratie.
Die Stadtgesellschaft polarisierte sich. Die weibliche Wählerschaft wurde schon während des Wahlkampfes eingeschworen auf den nun anstehenden Kampf gegen einen gottlosen Staat, der sich in der Trennung von Staat und Kirche manifestierte.
Konfessionelle und bürgerliche Kräfte als Sieger
Insgesamt gingen die konfessionellen und bürgerlichen Kräfte als Sieger aus den ersten Wahlen zur Nationalversammlung hervor. „Bedenke, was kommt, wenn durch Gleichgültigkeit die Sozialisten die erdrückende Mehrheit in der Nationalversammlung erlangen“, schrieb eine der nationalliberalen Partei nahestehende Duisburger Tageszeitung Anfang 1919, [44] während sie angsteinflößende Bilder von Zusammenbruch, Chaos und Anarchie heraufbeschwor.
In Gelsenkirchen sollte schon bald der Kampf um die Konfessionsschulen beginnen.[45]
[1] Institut für Stadtgeschichte Gelsenkirchen (ISG), StA Ge, Stadt Gelsenkirchen 1903-1919: Bericht über den Stand und die Verwaltung der Stadt Gelsenkirchen in der Zeit vom 1. April 1903 bis 31. März 1920, Gelsenkirchen 1921, StA Ge HB 3293.
[2] Vgl. Sammlung der für die Königlichen Preußischen Staaten erschienenen Gesetze und Verordnungen von 1806 bis zum 27sten Oktober 1810 mit Ausschluß der in der ersten Abtheilung des zwölften Bandes der Myliusschen Edikten-Sammlung schon enthaltenen Verordnungen aus dem Jahre 1806, Nr. 57, S. 324-360, einzusehen in: https://www.lwl.org/westfaelische-geschichte/portal/Internet/finde/erweiterte_suche/recherche_go.php?frmSort= (Zugriff 28.02.2019)
[3] Vgl. Karin Hausen, Die Polarität der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: dies., Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2012, S. 24f.
[4] Zahlen nach Statistisches Landesamt Nordrhein-Westfalen (Hg.), 50 Jahre Wahlen in Nordrhein-Westfalen 1919-1968, Düsseldorf 1969, S. 9.
[5] Vgl. Daniel Schmidt, Heimatfront Industriegebiet. Der Raum Gelsenkirchen im Ersten Weltkrieg 1914-1918, in: Westfälische Forschungen 68/2018, S. 7-44, S. 10.
[6] Informationen zu Emma Bublitz von ihrem Enkelsohn Herbert Bublitz.
[7] ISG, StA Ge, Wiedergutmachungsakte 1201, Wilhelmine Vorreiter
[8] Bericht „Der Beginn der Umsturzbewegung“, StA Ge, Ge 3147
[9] Sta Ge HB 3293, Stadt Gelsenkirchen 1903-1919: Bericht über den Stand und die Verwaltung der Stadt Gelsenkirchen in der Zeit vom 1. April 1903 bis 31. März 1920, Gelsenkirchen 1921.
[10] Bericht „Der Beginn der Umsturzbewegung“, StA Ge, Ge 3147, S. 210.
[11] Zitat aus „Das Weib im Conflict mit den socialen Verhältnissen“, zitiert bei: Karin Hockamp: Von vielem Geist und großer Herzensgüte: Mathilde Franziska Anneke 1817-1884, Hattingen 1999, S. 21.
[12] Zitiert bei Alexander Pentek (Hg.): Echte Verbrechen aus der guten alten Zeit. Verbrechen und Unglücke im Ruhrgebiet des Kaiserreichs, Gelsenkirchen 2017, S. 209.
[13]
[14] Vgl. Susanne Abeck, Albertine Badenberg, in: www. ###; Unterlagen über Albertine, Wilhelmine, Friederike, Anna Badenberg befinden sich im Steeler Archiv, www.steeler-archiv.de/.
[15] Vgl. zu Elisabeth Nettelbeck den Beitrag von Marlies Mrotzek, Der Katholische Deutsche Frauenbund, in: Von Hexen, Engeln und anderen Kämpferinnen. Stadtrundgänge zur Frauengeschichte in Gelsenkirchen, hg. v. Frauen- und Mädchenforum der Lokalen aGEnda 21 in Kooperation mit dem Frauenbüro der Stadt Gelsenkirchen u.a., Gelsenkirchen 2001, S. 27-29.
[16] Vgl. Mrotzek, Der Katholische Deutsche Frauenbund, ebd. S. 28.
[17] Zit. n. Mrotzek, Der Katholische Deutsche Frauenbund, ebd. S. 27.
[18] Josepf Mausbach zit. bei Elisabeth Pregardier: Der Beitrag der christlichen Frauenbewegung zur politischen Kultur in Deutschland, Schriften des KDFB, Heft 2, o. J., o. O., S. 13.
[19] M. Gräfin zu Münster, zit. n. Doris Kaufmann, Frauen zwischen Aufbruch und Reaktion, München 1988, S. 30.
[20] Vgl. StA Ge, Ge 893, Bbm Rot 437, A Hor 179
[21] Vgl. Hieber, Hanne, Die Frauenstimmrechtsbewegung in Dortmund, in: Heimat Dortmund 1/ 2008, S. 42-47.
[22] Ingeborg Boxhammer: Leben, Lieben und Arbeiten im Ruhrgebiet. Ein feministisches Netzwerk um 1900, in: Frank Ahland (Hg.): Zwischen Verfolgung und Selbstbehauptung. Schwul-lesbische Lebenswelten an Ruhr und Emscher im 20. Jahrhundert, Berlin 2016, S. 159-174.
[23] Zusammengefasst nach Anna Lindemann, Die Frauenstimmrechtsbewegung in Deutschland, Leipzig und Berlin 1913, S. 166 einsehbar unter www.deutschestextarchiv.de/book/view/lindemann_frauenstimmrechtsbewegung_1913?p=8 (Zugriff am 27.02.2019)
[24] Vgl. den Abdruck ihrer 1913 in Hagen erschienenen Doktorarbeit, Li Fischer-Eckert. Die wirtschaftliche und soziale Lage der Frauen in dem modernen Industrieort Hamborn im Rheinland, hg. und mit einer Einl. vers. von Elisabeth Heid und Ludger Heid, Duisburg 1986. Vgl. Susanne Abeck, Li Fischer-Eckert, in https://www.frauenruhrgeschichte.de/index.php?id=41&tx_frgdatabases_pi1[showUid]=70 (Zugang 29.02.2017)
[25] Für die Protestanten vgl. die Verhandlungen der Kreissynode Gelsenkirchen im ISG StA Ge, passim; vgl. Stefan Goch, Das protestantisch-nationale Lager und die Zerstörung der Weimarer Republik, in: Uta C. Schmidt (Hg.), Kirche in der Stadt. Wattenscheider Barock-Gelsenkirchener Appell, Gelsenkirchen 2017, S. 83-86.
[26] Leich, Carl, Erinnerungen aus meinem Leben, Gelsenkirchen 1914, S. 187.
[27] Notz, Gisela: „Her mit dem allgemeinen, gleichen Wahlrecht für Mann und Frau!“ Die internationale sozialistische Frauenbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts und der Kampf um das Frauenwahlrecht, Bonn 2008, S. 16 f.
[28] Vgl. Stefan Goch, Sozialdemokratische Arbeiterbewegung und Arbeiterkultur im Ruhrgebiet. Eine Untersuchung am Beispiel Gelsenkirchen 1848-1975, Düsseldorf1990, S. 119f.
[29] Minna Deuper: Ein denkwürdiger Tag. 25 Jahre sozialdemokratische Frauenbewegung in Essen, in: „Volkswacht“ vom 9.1.1929; zu Minna Deuper insgesamt: Haus der Essener Geschichte/Stadtarchiv/Archiv Ernst Schmidt: Bestand: 19-532 und 730.
[30] Vgl. Stefan Goch, Sozialdemokratische Arbeiterbewegung und Arbeiterkultur im Ruhrgebiet, ebd., S. 119.
[31] Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages er Sozialdemokratischen Partei, abgehalten in Magdeburg vom 18. Bis 24. September 1910, Berlin 1910, S. 19, einzusehen unter http://library.fes.de/parteitage/index-pt-1910.html (Zugriff 29.02.2019)
[32] Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten vom 13. bis 19. September 1908 sowie Bericht über die 5. Frauenkonferenz vom 11. bis 12. September 1908, Berlin 1908, S. 480, einzusehen unter http://library.fes.de/parteitage/index-pt-1900.html (Zugriff 29.02.2019)
[33] Clara Zetkin: Der Kampf um das Frauenwahlrecht soll die Proletarierin zum klassenbewussten politischen Leben erwecken, Rede am 22. August 1907 auf dem Internationaler Sozialisten-Kongress zu Stuttgart, 18. bis 24. August 1907, nach: dies., Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 344-358.
[34] Vgl. Klaus-Peter Dreßel, 100 Jahre SPD Bergkamen-Mitte 1904-2004. Geschichte des Ortsvereins Bergkamen, o.O., o.J. [Bergkamen 2004), S. 10f.
[35] Vgl. Stefan Goch, Sozialdemokratische Arbeiterbewegung und Arbeiterkultur im Ruhrgebiet, ebd., S. 119.
[36] Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten vom 13. bis 19. September 1908 sowie Bericht über die 5. Frauenkonferenz vom 11. bis 12. September 1908, Berlin 1908, S. 479, einzusehen unter http://library.fes.de/parteitage/index-pt-1900.html (Zugriff 29.02.2019)
[37] M. Gräfin zu Münster, zit. n. Doris Kaufmann, Frauen zwischen Aufbruch und Reaktion, München 1988, S. 30.
[38] Aufruf des Rates der Volksbeauftragten an das deutsche Volk (12.11.1918), in: Reichsgesetzblatt 1918, S. 1303-1304.
[39] Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung, 13. November 1918.
[40] Flugblatt Vereinigung evangelischer Frauenverbände, Archiv der Sozialen Demokratie, FES_00504201
[41] Reichsblatt, 21.11.1918 zit. n. Kirsten Heinsohn, Im Dienste der deutschen Volksgemeinschaft. Die „Frauenfrage“ und konservative Parteien vor und nach dem Ersten Weltkrieg, in: Planert, Ute (Hg.) Nation, Politik und Geschlecht. Frauenbewegungen und Nationalismus in der Moderne, Frankfurt a.M. 2000, S. 215-233 hier S. 226.
[42] Correspondenz der DNVF, 3.12.1921 zit. n. Kirsten Heinsohn, Im Dienste der deutschen Volksgemeinschaft, ebd., S. 227.
[43]
[44] Rhein- und Ruhrzeitung (RRZ), Nr. 31, 19.01.1919, StA Duisburg.
[45] Vgl. zur Schulfrage in der Gelsenkirchener Erinnerungskultur, Uta C. Schmidt, Unterstützung – das ISPA im globalen Zusammenhang, in: dies. (Hg.), Kirche in der Stadt. Wattenscheider Barock -Gelsenkirchener Appell, Gelsenkirchen 2019, S. 161-178, hier S. 176ff.