„Sich unter das Frauenregiment fügen“?! Die ersten weiblichen Stadtverordneten in Schwerte

„Das neue Stadtparlament hat gestern nachmittag seine erste Sitzung abgehalten. (…) Die beiden ‚Stadtmütter‘, auf die sich wohl das Hauptinteresse der zahlreiche(r)n weiblichen Tribünen-Besucher konzentrierte, Frau Elias und Frl. Ludwig, hatten inmitten ihrer Fraktionen Platz genommen.“1 So schreibt es die Schwerter Zeitung vom 21. März 1919, also heute vor 105 Jahren!

Gerne würde ich in der Zeit zurückreisen und Luise Elias und Sophie Ludwig fragen, wie sie diese erste Sitzung als Stadtverordnete erlebt haben und was sie für Hoffnungen, Gedanken und Sorgen hegten. Ob sie wohl stolz und froh waren, dass sich ihr Engagement im Wahlkampf ausgezahlt hat? Ob sie den Frauen auf der Tribüne würdevoll oder heimlich zugewunken haben? Ob sie unsicher waren, inmitten der vielen Männer, die nun Kollegen waren?  Die meisten waren allerdings ebenso neu im Ratssaal wie sie selbst, nur vier gehörten auch dem vorherigen Stadtparlament an. Mit der Abschaffung des Drei-Klassen-Wahlrechts saßen hier nicht mehr Direktoren und Honoratioren2, sondern erstmals auch Arbeiter und Bürger*innen.

Inmitten ihrer Fraktion – der SPD – auf der linken Seite saß also Luise Elias. Wir haben nur ein Kinderfoto von ihr, sie hat darauf dunkle Augen und braune, leicht gewellte Haare, die sie wohl am Tag ihrer ersten Stadtverordnetensitzung zurückgesteckt trug. Sicher trug sie einen langen Rock, von der Taille bis zum Knöchel, und eine elegante Bluse ohne Dekolleté, aber vielleicht mit Puffärmeln. Und sie trug kein Korsett – das war nicht mehr modern, denn es hatte sich bei der Berufstätigkeit vieler Frauen im Ersten Weltkrieg als unpraktisch erwiesen. Luise Elias wird das gefreut haben, sie hatte schon 1904 „Reform-Gewänder“ in einem Gedicht erwähnt3 Vermutlich war sie zugleich ernst und heiter gestimmt – wir kommen noch dazu. Warum hat sie sich aufstellen lassen, was war ihre Motivation? Es sind keine Egodokumente überliefert, also müssen wir schauen, was wir über sie wissen:

Luise Elias wurde am 30. Juli 1865 als Luise Steinweg in Rheda geboren, in ein jüdisches Elternhaus. Ihr Vater Abraham Steinweg war Lehrer und Cantor und hatte mit seiner Frau Sibilla neun Kinder.4 Das nächste, was wir wissen, ist: Luise Steinweg heiratete am 12.11.1893 Sally Elias, und das Paar zog nach Schwerte. Wie kam es dazu und was hat sie bis dahin gemacht? Luise war zu diesem Zeitpunkt 28 Jahre alt. Vermutlich hat sie nach dem Ende ihrer Schulzeit Familienarbeit geleistet und ihrer Mutter im Haushalt geholfen, so war es üblich. Für die Ausbildung von Töchtern wurde im Allgemeinen kein Geld ausgegeben, sondern im Gegenteil konnten Töchter ein Dienstmädchen ersetzen, und das so eingesparte Geld wurde für die Ausbildung der Söhne benutzt. Überhaupt galt: Für Töchter war die Mitgift deutlich wichtiger als Bildung.5 Zwar hat Luise Elias eine höhere Mädchenschule besucht, doch nach der 10. Klasse endete im 19. Jahrhundert die Schulbildung für junge Frauen, wurde doch die Tätigkeit als „Ehefrau und Mutter“ als der eigentliche Beruf angesehen (selbstverständlich unbezahlt). Die Zeit zwischen Schulabschluss und Heirat war eine Art „Wartestand“, die überbrückt werden musste.6 Ein Studium kam nicht in Frage, da an den höheren Töchterschulen kein Abitur gemacht werden konnte, und das allein berechtigte zum Studium. Luise Elias wird im Jahr 1904 in einem ihrer Gedichte die deutsche „Burschenherrlichkeit“ der allein männlichen Welt der Universitäten erwähnen – und dazu sagen, dass seit der Jahrhundertwende auch Mädchen auf ein Gymnasium gehen und studieren können.7

In den 1880er Jahren jedoch gab es im Hause Steinweg für Luise viel zu tun: es gab immer mehrere kleine Geschwister zu erziehen und zu versorgen, womöglich eine Mutter im Kindbett zu unterstützen, und insbesondere ein koscherer Haushalt erforderte genaueste Planung und aufwändige Vorbereitungen der religiösen Feste: getrenntes Geschirr für Milch und Fleisch, Vorbereiten des Schabbats, an dem nicht gearbeitet werden darf, Putzen und Herrichten des ganzen Hauses für Pessach… ohne mitarbeitende Verwandte wie die unverheirateten Töchter war das kaum zu schaffen.8 Auch die sozialen Kontakte in der jüdischen Gemeinde mussten gepflegt werden, und vielleicht hat Luise ’nebenher‘ noch an ihrer Aussteuer gearbeitet. Die Ehen wurden häufig arrangiert, eine Heirat sollte wirtschaftliche und gesellschaftliche Verbindungen herstellen. Konfessionelle Mischehen waren nicht erwünscht, eher sollten der Zusammenhalt in der jüdischen Gemeinde gestärkt und die religiöse Identität unterstützt werden.9 Nicht selten war eine Heirat verbunden mit einer Geschäftseröffnung.10 Auch bei Luise und Sally Elias war das so: nach der Heirat zogen sie nach Schwerte und betrieben eine Filiale des Geschäfts von Daniel Treu, ihrem Schwager, der sich mit Luises älterer Schwester Minna in Hagen niedergelassen hatte.11 Am 4. März 1893 wurde das „Kurz-, Weiss-, Woll-waren und Putz-Geschäft“ in der Wilhelmstrasse 34 eröffnet.12 Damit begann für Luise Elias ein neuer Lebensabschnitt mit neuen und altbekannten Tätigkeiten: Familienarbeit, nun mit eigenen Kindern. Sohn Berthold wurde 1894 geboren, Bruder Erich 1897 – er starb mit 2 Jahren, und im Jahr 1900 kam das dritte Kind Erwin zur Welt. Kurz vor der Einschulung von Berthold wurde in Schwerte 1898 die jüdische Schule (am Nordwall neben dem jüdischen Friedhof) gegründet13. Sally Elias war Vorsteher der jüdischen Gemeinde, vermutlich fielen deshalb auch ehrenamtliche Tätigkeiten im Gemeindeleben an. Ob Luise Elias auch in Geschäft, Buchhaltung oder Korrespondenz geholfen hat? Sicherlich wird sie mit dem Umzug zu tun gehabt haben: 1906 zog die Familie in die Hüsingstraße 1, wo dann auch ein größeres Geschäft eröffnet wurde.14 Neben all dem fand Luise Elias Zeit, zu schreiben: seit 1898 veröffentlichte sie unter dem Pseudonym „Ernst Heiter“ regelmäßig Gedichte zu den Themen Alltag, Politik, Weltgeschehen in der Schwerter Zeitung. Sie sprach sich für die junge Weimarer Republik und den Völkerbund aus, und sie warb 1919 für die Teilnahme insbesondere der Frauen an der Wahl:

„Es hallt so lang der Widerstreit / bis daß die Wahl gewesen / doch   diesmal sind zur Mitarbeit / die Frauen auserlesen! / Unübersehbar ist      die Zahl / der Weiblein, die heut wählen / es darf bei dieser Damenwahl / kein deutsches Mädchen fehlen“.15 Nach dem Ersten Weltkrieg bezeichnete sie den Versailler Vertrag als „Schande“ und beschrieb eingehend die Not der Menschen während der frühen zwanziger Jahre.16 Die Tätigkeit als Autorin war ihr wichtig, bei der Aufstellung zur Wahl-Liste hat sie „Schriftstellerin“ als Beruf angegeben, nicht „Hausfrau“ wie viele andere Kandidatinnen.17 1918 trat Luise Elias in die SPD ein – warum so spät? Die Mitgliedschaft in politischen Vereinen und Verbänden war Frauen seit 1908 erlaubt. Vielleicht lag es daran, dass ihr jüngster Sohn Erwin 18 Jahre alt wurde, damit war er zwar noch nicht volljährig, aber „aus dem Gröbsten raus“ – und es öffnete sich ein Zeitfenster für politisches Engagement. Vor der Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 redete Luise Elias auf mehreren Wahlveranstaltungen als Referentin, und auch vor der Kommunalwahl 6 Wochen später war es so.18Besonders auffällig inseriert ist ihr Vortrag „Antisemitismus und Wahlagitation“ auf einer öffentlichen Versammlung der SPD, vermutlich eine Replik auf eine Rede des DVP-Redners Schultz aus Hagen am Montag zuvor19. Dieser warb mit antisemitischen Inhalten für seine Partei, was schon während der Veranstaltung auf Protest der Versammelten stieß. Die Schwerter Jüdin Lise Stern antwortete mit einem Leserbrief: „Was hat Herr Sch. dem Judentum vorzuwerfen? (…) Ja, ich muß gestehen, daß ich (…) nur den Vorwurf herausschälen konnte: es sind zu viele Juden in der Sozialdemokratie. (…)Warum sind so manche Juden überzeugte Anhänger der Sozialdemokratie? Weil sie früher in der sozialdemokratischen Partei allein die Verwirklichung ihrer hohen Weltanschauung fanden: die Ansicht von jeder Gleichheit aller Menschen, die ein Gott erschaffen. (…) Im übrigen können Geister vom Schlage des Herrn Sch. uns nicht irre machen in unserem Glauben an das Deutschtum, in unserem Kampf für die deutsche Sache, für unser Vaterland.“20 Dieser Brief ist einerseits ein Ausdruck für das Empfinden der Schwerter Jüd*innen, selbstverständlicher Teil der Stadtgesellschaft wie auch der Nation zu sein, „deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens“21 – die sich im Übrigen vielfältig engagierten, als Stadtverordnete, in den Schichten, in Vereinen22. Zugleich ist kann es auch ein Hinweis auf Luise Elias‘ Einstellung zum Thema und zur Sozialdemokratie sein. In der Literatur wird gefragt, warum Elias nicht für die neu gegründete DDP in den Wahlkampf gezogen sei, das hätte wegen ihrer bürgerlichen Herkunft, der Nähe zur Frauenbewegung und des Engagements bekannter Frauen wie Li Fischer-Eckert aus Hagen, die auch in Schwerte sprach, nahegelegen23. Lise Stern zufolge war jedoch die „Gleichheit aller Menschen“ am ehesten mit der SPD zu erreichen, und vielleicht sah Luise Elias das ähnlich – jedenfalls entschied sie sich für die Sozialdemokratie. Die SPD wurde auch nicht müde, die „Wichtigkeit und Notwendigkeit der Mitarbeit der Frau in der Politik“ zu betonen24 Luise Elias erhielt den Listenplatz 3, das war der beste Listenplatz, der einer Frau in Schwerte eingeräumt wurde. Dann folgten allerdings viele Männer, die nächste und einzige weitere Frau war Auguste Bremshey auf Platz 18. Auf den Listen der Handwerker und Gewerbetreibenden standen überhaupt keine Frauen, während bei der USPD die Listenplätze 4, 7, 10, 14, 18, 21 mit Frauen besetzt waren25. Die DVP hatte zwei Frauen aufgestellt, auf Platz 5 (Frl. Anna Waltenberg) und Platz 12 (Lehrerein Ida Sche?f), und auf Platz 6 der DDP stand mit Agnes Tütel eine heute noch bekannte Schwerterin, gefolgt von Frieda Ostermann auf Platz 12. Die Listen wirken ein wenig eilig erstellt, es mussten gleichzeitig alle männlichen Erwartungen erfüllt und zugleich genügend Frauen aufgestellt werden. Im Kampf um das Frauenstimmrecht hatten sich zuvor bürgerliche und sozialdemokratische Frauen verbündet und kämpften gemeinsam mit Petitionen, Kundgebungen und Demonstrationen, dennoch kam die Einführung des Frauenwahlrechts durch den Rat der Volksbeauftragten 1918 offenbar für Viele überraschend26 Plötzlich mussten Frauen als politisch Handelnde angesprochen werden, ganz entgegen der bürgerlichen Geschlechterordnung. Bei der Listenaufstellung platzierten auch die linken Parteien Frauen nicht paritätisch27, weshalb nur 9,6% der Mandate in der Nationalversammlung an Frauen gingen, in den Gemeindevertretungen waren es 11%28.

Mit Listenplatz 5 für die katholische Lehrerin Sophie Ludwig hatte das Zentrum einen halbwegs aussichtsreichen Listenplatz an eine Frau vergeben, alle nachfolgenden Männer und auch Anne Dahlbüdding auf Platz 10 gelangten nicht mehr ins Stadtverordnetenparlament. Auf der Wahlliste wurde sie als „Ludwig, Sofie, Lehrerin“ geführt, und die Schwerter Zeitung nannte sie „Fräulein Ludwig“ – denn als Lehrerin war und blieb sie unverheiratet29. Der „Lehrerinnenzölibat“ war 1880 eingeführt worden, bei einer Heirat erfolgten Kündigung und Verlust der Rentenansprüche30. Allerdings bot der Lehrerinnenberuf für bürgerliche Frauen die Möglichkeit eines selbständigen Lebens. Viele Lehrerinnen waren in den Frauenverbänden engagiert, in der Mädchen- und Frauenbildung und zunehmend auch in der Politik: Der 1890 gegründete Allgemeine Deutsche Lehrerinnenverein wurde schnell zu einem „Kristallisationspunkt“ der Frauenbewegung, Helene Lange und Gertrud Bäumer sind heute (wieder) bekannt. Sophie Ludwig hat zu diesem Zeitpunkt schon als Volksschullehrerin in Schwerte gearbeitet. 1863 in Honnef am Rhein geboren, hatte sie u.a. in Rostow am Don gelebt und ihr Examen in Nonnenwerth gemacht, bevor sie als Hauslehrerin in Wien und als Lehrerin in Hallenberg gearbeitet hat.31 In Schwerte unterrichtete Ludwig über 30 Jahre lang die ersten beiden Schulklassen, und sie tat dies „dialogisch“, mit großem Erzähltalent und ohne Rohrstock – das war etwas Besonderes, denn das starre Schema, nach dem zu der Zeit unterrichtet wurde, ließ keinen Raum für Dialog oder Spontaneität. Damit war Ludwig pädagogisch sehr fortschrittlich und kam der dialogischen Unterrichtsweise von Helene Lange, der Reformerin der Mädchenbildung, nahe.32.

Ludwig war erst in der Weißenbergschule und dann in der Haselackschule tätig. Während des 1. Weltkriegs soll Sophie Ludwig im Marienkrankenhaus bei der Behandlung von Kriegsgefangenen gedolmetscht haben, da sie fünf Sprachen sprach. Als der Lehrerinnenzölibat 1919 aufgehoben wurde, war Ludwig 55 Jahre alt und gerade für die Schwerter Zentrumspartei ins Stadtverordnetenparlament eingezogen. Drei Jahre später wurde sie Konrektorin.33 Neben Arbeit und Lokalpolitik hat sie sich im katholischen Elisabeth-Verein engagiert34und ist gerne gereist – es gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, dass sie ihre emanzipierte Lebensführung gegen eine Ehe hätte tauschen wollen.

Wie Luise Elias ist auch Sophie Ludwig im Wahlkampf aufgetreten: sie hielt am 15.1.1919 eine Ansprache „über die Not des Vaterlandes“ bei der Veranstaltung der Frauenvereine der katholischen Gemeinde35. Eineinhalb Monate später wird sie Stadtverordnete für das Zentrum – und blieb das bis zum 9.1.1931. Am 27. Mai 1924 leitete sie als erste Frau eine Sitzung, „eine große Seltenheit in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus“ schrieb die Schwerter Zeitung und befand: „als erfahrene Praktikerin machte Fräulein Ludwig ihre Sache ganz famos“36. Sie wurde auch „zum 2. Vorsitzenden“ des Stadtparlaments gewählt und übernahm 1929 als Alterspräsidentin den Vorsitz bei der Wahl des Stadtverordneten-Vorstehers37. Das Zentrum stellte Sophie Ludwig bei jeder Wahl auf dem Listenplatz 5 auf. Bei der Wahl 1924 gelangte sie als einzige Frau ins Stadtparlament, denn keine andere Partei hatte einer Frau einen aussichtsreichen Listenplatz gegeben. Erst Klara Warstatt konnte 1929 auf Listenplatz 4 auf Anhieb für die SPD Stadtverordnete werden38. Mit 65 Jahren ging Sophie Ludwig in Rente, und zwei Jahre später, 1931, legt sie ihr Mandat nieder. Die Schwerter Zeitung lobte ihre „rastlose Tätigkeit im Sinne der Allgemeinheit“ und die „Wertschätzung aller Parteien“, die ihr entgegengebracht wurde39. Im selben Jahr zog sie in das Marienkrankenhaus, sie konnte sich dort einen Altersheim-Platz sichern. Sie erlebte das Erstarken der NSDAP, die Machtübergabe und die Entwicklung von der Republik zur Diktatur. Ihre Partei, das Zentrum, löste sich im Juli 1933 auf, die NSDAP übernahm das Schwerter  Stadtverordnetenparlament, und es saß keine Frau mehr darin. Wir wissen nicht, wie Sophie Ludwig zu alldem stand, ihre Einstellung zum Nationalsozialismus ist nicht überliefert. Es gibt weder den Nachweis eines Engagements in einem nationalsozialistisch geprägten Bereich noch einen in einem regimefernen oder widerständigen. 1941 spricht Bürgermeister Dr. Erich Weinert in seinem Nachruf auf Sophie Ludwig von einem „segensreichen Wirken“ als Lehrerin und ihrem „klugen Rat für die Belange der Bürgerschaft“40– eine Tätigkeit zB in der NS-Frauenschaft oder einem anderen nationalsozialistischen Verband hätte er sicher erwähnenswert gefunden. Auch die NS-treue Schwerter Zeitung beschreibt Ludwig in ihrem Bericht über deren Beerdigung als „gütigen und klugen Menschen“ und ihre Tätigkeiten als Lehrerin und als Mitglied der Stadtvertretung – lediglich Konfession und Partei werden beide Male nicht erwähnt41. Mündlich überliefert ist hingegen eine Aussage von ihr, die von Toleranz zeugt und nicht von Antisemitimus: in jungen Jahren wohnte sie in der Großen Marktstraße in einem Haus mit dem jüdischen Lehrer Sänger und mit einem evangelischen Mieter, und die katholische Ludwig sagte dazu: „Hier wohnt die heilige Dreifaltigkeit“.

Sophie Ludwig starb am 11.3.1941 mit 77 Jahren, 18 Jahre nach ihrer Stadtverordnetenkollegin Luise Elias, die 1923 mit 58 Jahren verstarb.42

Die beiden Pionierinnen blieben nicht die einzigen Frauen im Schwerter Parlament: Als Nachrückerin kam 1920 Auguste Bremshey für die SPD und 1929 die schon erwähnte Klara Warstatt sowie für die KPD Martha Engel43 und 1933 Elisabeth Birkenhauer, deren Mandat aber annulliert wurde. Außer Sophie Ludwig schieden alle jedoch nach einer Wahlperiode wieder aus, Ludwig war mit 12 Jahren am längsten Stadtverordnete. Zur Statistik: 1919 gab es 30 Stadtverordnete, davon 2 Frauen und 5 Männer mit Namen Wilhelm (+1920 eine Frau), 1924 1 Frau und 5 Wilhelms, 1929 3 Frauen (SL, Klara Warstatt, Martha Engel?) und 3 Wilhelms, 1933 1 Frau und 2 Wilhelms44. Ungeachtet der Wahlkampfbemühungen war ‚die Politikerin‘ eine Verletzung der tradierten Geschlechterordnung. Und doch veränderte sich das weibliche Selbstverständnis durch die politische Teilhabe: Duisburger Frauen forderten 1929 mehr weibliche Stadtverordnete durch aussichtsreichere Listenplätze.45

Haben sich die weiblichen Stadtverordneten von den männlichen unterschieden? Zu ihrer Motivation gehörte sicher auch der Gestaltungswille, zB durch die Linderung von Not – ein vorherrschendes Thema in den Sitzungen war das Verteilen von Lebensmitteln und Kohle an bedürftige Schwerter*innen. Für Sophie Ludwig könnte auch eine christliche Ausformung der Demokratie angenommen werden – allerdings ist nicht erwiesen, inwieweit sie sich zum Beispiel als Teil der katholischen Frauenbewegung sah.46 Auch ihre politischen Verbindungen in die Stadtgesellschaft oder ihre Positionierung innerhalb ihrer Partei sind bisher nicht bekannt. Die weiblichen Stadtverordneten hatten zunächst wenig mit den Arbeiter- und Soldatenräten der Umbruchzeit zu tun, die Welt der Arbeiter, der Gewerkschaftler und der Soldaten war eine männliche. Welche Auswirkungen kann ihr Engagement gehabt haben, welche Handlungsräume wurden Elias und Ludwig zugestanden? Von einem Frauenregiment konnte keine Rede sein47. Es waren zu keinem Zeitpunkt mehr als 3 Frauen gleichzeitig Stadtverordnete, das war zwischen 1920 und 1923. In welchem Ausmaß sie in den Debatten in Erscheinung traten, kann hier nicht nachgewiesen werden, in den Berichten „Aus der Stadtverordnetensitzung“ in der Schwerter Zeitung wurden sie kaum genannt – was ja auch an der Berichterstattung liegen kann. Wurde ihren Anmerkungen und Vorschlägen so viel Wert beigemessen, dass sie als relevanter Teil der Debatte gesehen wurden, von ihren Parlamentskollegen wie von den Berichterstattern? Dazu könnte noch mehr geforscht werden, damit unser Blick auf das Schwerte, wie es vor 105 und in den folgenden Jahren war, um die weibliche Perspektive erweitert wird. Damals wie heute ist Sichtbarkeit wichtig, und deshalb ist es gut, dass unseren beiden ersten weiblichen Stadtverordneten hier einen Gedenkort gewidmet wird. Wie Luise Elias und Sophie Ludwig das wohl gefunden hätten? Vermutlich hätten sie die Idee zunächst bescheiden abgetan, aber vielleicht hätten sie sich auch gefreut über diesen weiteren Schritt im Kampf um „die Frauenfrage“.

Kirstin ter Jung / Arbeitskreis Schwerter Frauengeschichte – Vortrag anlässlich der Einweihung der zwei FrauenOrte NRW im Ratssaal Schwerte am 21. März 2024

  1. Schwerter Zeitung (SZ) 21.3.1919.
  2. Reininghaus 1397, 462f; Abeck/Schmidt, ZfG S. 461.
  3. SZ 11.6.1904.
  4. Schmidt: LE.
  5. Kaplan 194. Das Foto von Luise Elias ist mit 1877 datiert, da war sie 12 Jahre alt.
  6. Schaser, S. 25-27; Kaplan, S. 190.
  7. SZ 11.6.1904. 1896 bestanden die ersten Absolventinnen der Gymnasialkurse Helene Langes als Externe das Abitur, mit der Mädchenschulreform 1908 wurden in Preußen Frauen an Unis zugelassen. Schaser S.34f.
  8. Kaplan S. 44, 61. Luises ältere Schwester Minna war seit 1875 auf der Höheren Töchterschule in Münster – wo war sie zwischen Abschluss und Heirat? 1891 starb die Mutter Sibilla Steinweg.
  9. Kaplan, S. 25, 257.
  10. Kaplan, S. 135f.
  11. StA: blauer Ordner Elias; Geschichtswerkstatt Düren: https://www.geschichtswerkstatt-dueren.de/juedische-mitbuerger-innen?letter=t (zuletzt eingesehen am 5.9.2023).
  12. SZ 4.3.1893.
  13. Hagenah S. 51ff. Die Synagoge wurde am 1.9.1854 eingeweiht und 1928 umgebaut.
  14. Hagenah S. 38f bezieht sich auf das Adressbuch 1909/10, in dem Geschäft bereits in Hüsingstr 1 ist.
  15. SZ 18.1.1919.
  16. SZ 18.1.+ 17.5.1919 zum Versailler Vertrag; SZ 11.1.1919 „Schülerrat“.
  17. SZ 25.2.1919.
  18. .SZ 11.+ 17.1.1919, 28.2.1919.
  19. SZ 6.1.1919 Ankündigung, Bericht am 7.11. und Leserbriefe: 8.+ 9.1.1919 (zuletzt Lise Stern). 
  20. SZ 9.1.1919. Die Schwerter DVP antwortete in einem Leserbrief, dass sie den Redner erstmalig hörten und dem Antisemitismus „stets fern standen“. SZ 9.-12.1.1919.
  21. SZ 9.1.1919, „Eingesandt“.
  22. Hagenah S. 71 (der israelitische Frauenverein spendete 1914 300  Mark an die Stadt), Johanna Reifenberg hat (mit Agnes Tütel) die Mütterberatung gegründet; S. 86 (Stadtverordnete); S. 42 (Schichtwesen); Leopold Sternheim gründete die Freiwillige Feuerwehr Ergste mit.
  23. Reininghaus LiW S. 46f; Schmidt LE; Gründung DDP: 20.11.1918; zu Li Fischer-Eckert: SZ 18.1.1919.
  24. So bei einer Veranstaltung mit Demonstrationszug, an dem viele Frauen teilnahmen. SZ 6.1.1919.
  25. SZ 25.2.1919; die USPD hatte sich 1916 von der SPD abgespalten.
  26. Schaser S. 57.
  27. Abeck/Schmidt ZfG S. 458.
  28. Paulus 1919.
  29. SZ 25.2.1919,  21.3.1919.
  30. Der Lehrerinnenzölibat wurde 1919 abgeschafft und 1923 wieder eingeführt. Schaser S. 28f.
  31. Frauengeschichten S. 48.
  32. Schaser S.28.
  33. Damit war sie stellvertretende Leiterin der Hasellackschule.
  34. Adressbuch S. 24.
  35. SZ 16.1.1919.
  36. SZ 28.5.1924.
  37. SZ 20.12.1929; Reininghaus 1397 S. 494 (ohne Quellenangabe).
  38. SZ 6.,7. & 28.5.1924, SZ 17. & 18.11.1929. Auguste Bremshey rückte im Oktober 1920 für die SPD nach (SZ 14.10.1920). Bruno Feische im Schwerter Stadtblatt 4/88 zufolge war Anna Waltenberg im Mai 1924 für die DVP/DNVP Stadtverordnete: dies konnte bisher nicht bewiesen werden; ebensowenig wie Martha Engels Mandat im Juli 1925 für die KPD; 1933 zog Elisabeth Birkenhauer auf Platz 3 für die KPD in die Stadtverordnetenversammlung ein (SZ 13.3.1933), doch die 4 KPD-Mandate wurden annulliert.
  39. SZ 9.11.1931.
  40. SZ 14.3.1941.
  41. SZ 15.3.1941. 
  42. Am 20.10.1923; In ihrem Sterbeeintrag (StA) sind als Todesursache Herzmuskelentzündung, Herzlähmung, Magenkrebs angegeben (Elias wird meist als Asthma-krank beschrieben). Im Sterbeeintrag Ludwig vom  12.3.1941 ist „Herzmuskelschwäche“ und „allgemeiner körperlicher Verfall“ angegeben (StA Schwerte).
  43. Juli 1925 – Nov 1932 (Bruno Feische), in SZ 4.8.1925 jedoch nicht gefunden.
  44. 100 Jahre SPD S. 78-80. Bezugnehmend auf das „Thomas-Prinzip“ und Frauen in aktuellen Aufsichtsräten.
  45. Abeck/Schmidt ZfG S. 447.
  46. Abeck/Schmidt ZfG S. 453.
  47. SZ 20.12.1929, so nannte Ludwig selbst ihren Vorsitz als Alterpräsidentin bei der Wahl des Vorstehers.

    Literatur und Quellen

    Abeck, Susanne/ Schmidt, Uta C.: Politikerinnen in Weimar – endlich der Beginn einer Spurensuche! Forschungen zum Ruhrgebiet. in: ZFG 71 (2023) 5, S. 443ff.                

    Adressbuch für den Amtsgerichtsbezirk Schwerte, des Amtes Westhofen und die Gemeinden Ergste und Hennen 1930. Nach amtlichen Quellen bearbeitet, Druck und Verlag von Carl Braus. Schwerte=Ruhr.

    Arbeitskreis Schwerter Frauengeschichte(n) (Hg): Starke Frauen. Schlaue Köpfe. Schwerter Frauengeschichte(n), Schwerte 2013.

    Feische, Bruno: Aus der Schwerter Stadtgeschichte. 1919 – Der Beginn der politischen Emanzipation der Frau in Schwerte, in: Schwerter Stadtblatt 4/88.

    Hagenah, Liselotte: Geschichte der Juden in Schwerte, hrsg im Autrag des Heimatvereins Schwerte e.V., Schwerte 1988.

    Kaplan, Marion A.: Jüdisches Bürgertum. Frau, Familie und Identität im Kaiserreich. Hamburg 1997.

    Liste Fam. Steinweg, undat., im blauen Ordner des AK Schwerter Frauengeschichte(n), vermutl. zusammengestellt von Hille Schulze-Zumhülsen, übernommen von der AG Schwerter Frauengruppen von Gudrun Körber an die Autorin (Abgabe an das Stadtarchiv Schwerte).

    Paulus, Julia: 19.1.1919 – Erstmaliges aktives und passives Wahlrecht für Frauen in Deutschland. in: Internet-Portal „Westfälische Geschichte“: https://www.lwl.org/westfaelische-geschichte/portal/Internet/finde/langDatensatz.php?urlID=600&url_tabelle=tab_websegmente (zuletzt aufgerufen am 01.09.2023)

    Reininghaus, Wilfried: Schwerte und das mittlere Ruhrtal 1806-1975. in: Stadt Schwerte (Hg): Schwerte 1397-1997. Eine Stadt im mittleren Ruhrtal und ihr Umland, Essen 1997.

    ders: Luise Elias aus Schwerte – Jüdin. Sozialdemokratin und Dichterin. in: Literatur in Westfalen, Bd 18, Münster 2021, S. 45-70.

    Schaser, Angelika: Frauenbewegung in Deutschland 1848-1933. Darmstadt 2006.

    Schwerter Zeitung (SZ) vom 4.3.1893; 11.6.1904; 6.-12.1.1919;  16.+18.1.1919; 25.2.1919;  28.2.1919, 21.3.1919; 17.5.1919; 28.5.1924; 6.7.1924; 17.+18.11.1929; 20.12.1929; 9.11.1931; 13.3.1933; 14.+15.3.1941.

    Schmidt, Uta C: Luise Elias / 1865-1923. in: frauen/ruhr/geschichte – biographien https://www.frauenruhrgeschichte.de/frg_biografie/luise-elias/#easy-footnote-bottom-6-3060; zuletzt aufgerufen am 20.9.2023.

    Sterbeeintrag Luise Elias 22.10.1923, und Sterbeeintrag Sophie Ludwig 12.3.1941, Standesamt Schwerte (StA).

    Wais, Mathias: Jüdische Grabinschriften in Schwerte. Hrsg mit Hilfe des Heimatvereins Schwerte, Schwerte 2008.  Hier kein Grab von Luise Elias verzeichnet.

Zitation: ter Jung, Kirstin, "Sich unter das Frauenregiment fügen"?! Die ersten weiblichen Stadtverordneten in Schwerte, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, 21. 03. 2024, https://www.frauenruhrgeschichte.de/frg_wiss_texte/3534/

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