Ulrike Janz / 1956

Arbeitertochter, Aktivistin, Theorie-liebende Macherin

Für Ulrike Janz, Jahrgang 1956, beginnt gerade eine ganz neue Lebensphase: Der sogenannte „Ruhestand“. Sie ist gespannt, wie sich der wohl anfühlt und wie er auf Dauer aussehen wird, sagt sie während wir in ihrer gemütlichen, mit Büchern gefüllten Wohnung im Dortmunder Beginenhof sitzen. Pläne und Ideen hat sie viele, wie sich das für eine leidenschaftliche Aktivistin und lebenslange Macherin gehört. Ulrike Janz ist seit ihrem Studium an der Ruhr-Uni Bochum in der Frauen-Lesben-Bewegung aktiv, politisch interessiert war sie aber schon als Schülerin, und ein Klassenbewusstsein hatte sie als Arbeiter:innentochter ebenfalls schon früh. Wie also hat alles angefangen, damals in Recklinghausen?

Klassenbeste

Ulrike war schon immer ein Bücherwurm. Allerdings gehörten die Praxis, das Machen, in ihrer Familie immer selbstverständlich dazu. Die Mutter, eine Kinderpflege-Assistentin aus einer Bergmannsfamilie, legte Wert auf Qualität und gepflegtes Äußeres und nähte ausgezeichnet. Der Vater, Maurer und LKW-Fahrer, hatte ein enormes handwerkliches Geschick. Beide brachten ihren Töchtern Ulrike und Susanne vieles bei, auch wenn Ulrike von sich sagt, dass sie im Vergleich zu ihren Eltern weder so perfekt schneidert wie die Mutter, noch so talentiert heimwerkt wie ihr Vater.

Dem Vater fehlte es wegen seines Mangels an formaler Bildung oft an Selbstbewusstsein, doch seine Töchter, die ihn als lebensklugen Menschen und höchst begabten Handwerker schätzten, stärkten ihn. Die Mutter wurde aufgrund ihres Stils sowie ihrer kommunikativen und offenen Art auch von ihren Freund:innen aus der Bürger:innenschicht hoch geschätzt. So verstand Ulrike früh: Formale Bildung ist wichtig, aber andere Arten von Wissen und praktische Fähigkeiten sind ebenso wertvoll; soziale Klassen existieren und müssen klar benannt werden, man sollte sich als Arbeiter:innenkind aber davon nicht einschüchtern lassen.

Als Ulrike mit zehn Jahren auf eine weiterführende Schule gehen sollte, griffen dann aber doch Unsicherheiten und Ängste der Eltern: Um der Tochter als Arbeiter:innenkind schlechte Erfahrungen zu ersparen, entschieden sie sich, das lernbegeisterte Mädchen nicht aufs Gymnasium zu schicken, sondern auf die Realschule, mit dem Ziel später mal z.B. bei der Sparkasse zu arbeiten. Ulrike weinte zwei Wochen lang. Mit den guten Noten war es aus reiner Verweigerung erstmal vorbei. In der  Realschule herrschte strikte Geschlechtertrennung und es ging höchst autoritär zu. Doch mit der Zeit siegte die Lust am Lernen, und in der 8. Klasse war klar: Ulrike würde nach dem Realschulabschluss zum Gymnasium wechseln. Als Jahrgangsbeste und Dank der sozialdemokratischen Bildungsreform mit Schülerbafög begann 1971 Ulrikes Gymnasialzeit. Während sie an der Realschule noch vor einem Abstieg der Zensuren auf der neuen Schule gewarnt wurde, genoss sie den respektvollen Umgang am Gymnasium und wählte Geschichte und Französisch als Leistungskurse. Neben der Schule bestand Ulrikes Leben vor allem aus Disko, Nähen und Lesen, mit 13 hatte sie ihren ersten Freund, außerdem war sie ein wenig in der Schülervertretung aktiv. Dort begeisterte sie sich für linke Politik.

Den Eltern machten die linken Ansichten ihrer Tochter etwas Sorgen, die Stimmung in Deutschland war bedingt durch Aktivitäten der Roten Armee Fraktion zunehmend nervös. Zudem trat sie mit 18 aus der Kirche aus, was sich bei der Arbeitssuche nachteilig auswirken konnte. Der Vater war zwar politisch interessiert, hatte aber aufgrund seiner persönlichen Geschichte großen Respekt vor Autoritäten und hätte sich nie zugetraut, politisch aktiv zu werden. Der mittelschichtsorientierten Mutter war vor allem wichtig, dass es ihre Töchter einmal besser haben würden als sie selbst. 1974 bestand Ulrike das Abitur – Ziel war der Numerus Clausus gewesen, die Mutter hätte ein Medizinstudium gern gesehen, doch Ulrike entschied sich für Psychologie. In Bochum wurde sie angenommen und liebte die Ruhr-Uni vom ersten Moment an. Für ihre Eltern war klar , dass sie ihre Tochter in allem unterstützen würden, was sie sich vornahm.

In der Betonschönheit

Mit langen blonden Haaren, schwingenden Röcken, Make up, hohen Absätzen und einem eleganten Fuchspelzmantel stößt Ulrike  in linken Kreisen der Uni auf  Vorurteile: Wegen ihrer Kleidung hält man sie für einen Mittelschichtstochter und traut ihr politisch wenig zu. Hier können privilegierte Bürger:innenkinder einiges von ihr lernen, zum Beispie,l dass man sich erst mal leisten können muss, in einer Gesellschaft, die Wert auf Äußerlichkeiten legt, absichtlich abgerissen herumzulaufen. Im Studiengang Psychologie sind 40% der Studierenden schon älter, weil sie über den zweiten Bildungsweg an die junge Ruhrgebietsuni gekommen sind. So findetUlrike schnell eine Clique von interessanten Menschen, mit denen sie persönliche und politische Schnittmengen hat. Bald zieht sie ganz nach Bochum, denn täglich mit dem Zug von Recklinghausen zur Uni zu pendeln nimmt zu viel Zeit in Anspruch.

Das Psychologische Institut mit den Schwerpunkten Verhaltenstherapie und Gesprächstherapie ist bis Mitte der 1970er Jahre den Geisteswissenschaften zugeordnet, dann werden Statistikvorlesungen und -prüfungen Pflicht. Und das Institut, ohnehin der linken Spontiszene nahe, rebelliert: Die Studierenden streiken, wenn Statistikklausuren auf dem Stundenplan stehen. Ulrike, die sich für Anarchafeminismus interessiert, findet das sehr sympathisch, macht aber trotzdem 1977 ihr Vordiplom. Im gleichen Jahr beginnt sie, in einer von Psychologiestudentinnen gegründeten Frauengruppe aktiv zu werden und belegt von Studentinnen ins Leben gerufene Frauenseminare – ihr „organisierter Einstieg in den Feminismus“, wie sie selber sagt. Als Ulrike Alice Schwarzers „Der kleine Unterschied“ liest, blättert auch die Mutter in dem Buch und fragt: „Musst Du dann auch lesbisch werden?“ Ulrikes ehrliche Antwort: „Aber Mama, Du weißt doch, dass ich nicht lesbisch bin.“

Der 1978 gegründete Frauenbuchladen heißt sie mit offenen Armen willkommen. Hier, in der Szene die viele Frauen- und Lesbengruppen umfasst, die zu verschiedenen Themen politisch arbeiten, sich treffen, diskutieren, Aktionen machen, findet sie nach und nach eine theoretische und praktische, politische und persönliche Heimat. Sie arbeitet von 1977 bis 1981 in der Bochumer Frauenhausinitiative mit, auch im Studium wird das Thema Gewalt gegen Frauen behandelt, ebenso wie  sexuelle Störungen, Verhütung und Abtreibung – Studentinnen bringen diese Aspekte in Seminaren ein. Außerdem ist Ulrike für einige Jahre im FrauenLesbenReferat der Uni aktiv und ist eine Weile Referentin.

Dass sie Frauen auch anziehend findet, wird ihr erst allmählich bewusst. Nach Wochenenden in Frauenzusammenhängen zurück nach Hause zu ihrem Freund zu kommen, fühlt sich irgendwann seltsam unpassend an. Der verständnisvolle junge Mann, selbst anarchistisch engagiert und in einer feministischen Männergruppe aktiv, unterstützt die nun lesbisch lebende Freundin, es gibt auch ein gemeinsames Abendessen mit ihm und einer Frau, mit der Ulrike eine kurze Beziehung hat, doch das ist keine Dauerlösung. In den Frauengruppen wird viel darüber diskutiert, ob für Frauen ein befreites Leben nach den aus der eigenen gesellschaftlichen Situation entwickelten feministischen Grundsätzen (Politik der Subjektivität) in Beziehungen mit Männern überhaupt möglich ist. Für Ulrike und viele andere Frauen lautet die Antwort: Nein. So ist das Jahr 1982 von vielen Veränderungen geprägt: Nach dem Examen 1981 ist das Studium nun zu Ende. Ulrike hat Röcke und Make Up seit einigen Jahren hinter sich gelassen, nun verabschiedet sich auch von ihrem langen Haar – und hat ihr Coming Out.

Vom Film zum Buch zur Zeitschrift

Eigentlich hatte die Frauengruppe am Psychologischen Institut den Plan, im Ruhrgebiet ein feministisches Therapiezentrum zu gründen. Doch viele der Frauen gehen nach dem Examen in den Beruf und haben keine Zeit mehr, sich außerhalb des Arbeitsalltags im großen Stil zu engagieren.

Ulrike beginnt, Autogenes Training zu unterrichten. Gemeinsam mit anderen Lesben sowie feministischen Heteras gründet sie eine Gruppe gegen Imperialismus und Bevölkerungspolitik, die sich bald auch kritisch mit Reproduktions- und Gentechnologien auseinandersetzt und sich dagegen engagiert. Mit ihrer ersten ernsthaften lesbischen Beziehung zieht sie 1983 in eine Lesben-WG, die anderthalb Jahre besteht und als Lebensmodell auch eine wichtige politische Dimension hat. Wie Beziehungen aussehen können und welche Gestaltungsmöglichkeiten es gibt, ist in der Lesbenszene ein großes Thema, denn bürgerliche bzw. patriarchale Muster wollen die Frauen in der Bewegung nicht reproduzieren.1

Gleichzeitig sind Vorurteile und Diskriminierung seitens der Gesellschaft nach wie vor ein großes Problem. Als Ulrike mit ihrer Freundin eine Wohnung sucht, meint die Vermieterin beim Kennenlernen: „Wir mussten Sie ja erst mal sehen – Sie könnten ja auch Lesben sein!“ Mit der Wohnung klappt es trotzdem, die Eltern schenken gutes Geschirr und freuen sich über das ordentliche Zuhause mit ordentlichen Möbeln. Denn den Grundsatz: „Wie haben zu wenig Geld, um billige Sachen zu kaufen“ hat Ulrike verinnerlicht, auch was ihre Kleidung angeht. Die Eltern sind weiterhin unterstützend: „Brauchse was, Kind? Kauf was ordentliches!“ Der Vater plaudert mit Ulrikes Partnerinnen gern über Autos.

1984 nimmt Ulrike eine Stelle als Filmvorführerin im Uni-Kino an– eigentlich kein Job für Frauen, wie man ihr sagt, aber eine Lesbe könnte den schon machen. Na, ein Glück! Die Arbeitszeiten sind ungünstig für das eigene soziale Leben, die Kino-Gutscheine bleiben ungenutzt, die Bezahlung ist schlecht, doch Ulrike kann zum Teil das Programm mitgestalten und viele Aushilfen – meist junge Männer – anlernen. Der Vater ist stolz, dass sie eine technisch anspruchsvolle Arbeit macht, die Mutter vermutet eher, dass der Job nicht ungefährlich ist. Schwester Susanne arbeitet eine Zeit lang an der Kinokasse. Doch nach einem Konflikt des Uni-Kinos mit der Bochumer Lesbenszene, die erfolglos eine reine Frauenvorführung für den Film „Desert Hearts“ fordert und schließlich Stinkbomben ins Kino wirft, geht Ulrike, die mit dem Anschlag nichts zutun hatte, auf die Suche nach einer neuen Arbeitsstelle.

Im Bochumer Frauenbuchladen Amazonas ist Ulrike seit Ende der 1970er Jahre eine gute Kundin. Seite 1987 arbeitet sie dort ein mal pro Woche unbezahlt mit. Für das Kollektiv aus 15 Frauen ist 1988 klar: Amazonas muss sich professionalisieren, um effektiv wirtschaftlich arbeiten zu können und langfristig zu bestehen. Ulrike beginnt als Geschäftsführerin, zunächst zusammen mit einer anderen Frau, dann alleine. Zusammen mit unbezahlt engagierten Frauen sowie einigen ABM-Stellen, hält der 1978 gegündete Laden bis 2006 durch – den vielen Veränderung am Buchmarkt, in der Gesellschaft und in der FrauenLesben-Szene zum Trotz. Der mit Privatgeldern und Krediten umgebaute Geschäftsraum wird zu Ulrikes zweitem Wohnzimmer. Sie arbeitet pro Woche bis zu 60 Stunden, macht Büchertische, liefert Bestellungen aus. Nachdem sie nicht mehr über ABM-Stellen arbeiten kann, macht sie sich als Geschäftsführerin selbstständig. Bald wird klar, dass die Arbeit für eine Person zu viel ist, eine weitere buchbegeisterte Feministin  wird ihre Kollegin. Sie konzipieren gemeinsam mit dem Laden-Kollektiv aus Studentinnen, Sozialhilfeempfängerinnen und Lehrerinnen Veranstaltungsprogramme – Autorinnen wie May Ayim sind zu Gast, Frauen mit Migrationsgeschichte berichten von ihren Erfahrungen, feministische Themen werden präsentiert und diskutiert. Auch Ulrikes Eltern unterstützen den Frauenbuchladen während einer extremen finanziellen Krisensituation.

IHRSINN

Die meisten Menschen wären mit der Leitung eines Buchladens ausgelastet, doch Ulrike Janz fehlte eine Ausdrucksmöglichkeit für politische Analysen aus lesbischer Perspektive. Auf Reisen in Kanada und Großbritannien hatte sie Lesbenzeitschriften wie Gossip, Lesbian Ethics und Sinister Wisdom kennengelernt, die lesbisch-feministische Theorie in gut lesbarer Form vermittelten. Manch eine würde vielleicht das Fehlen solcher Zeitschriften in Deutschland bedauern und an dem Punkt stehen bleiben. Ulrike hingegen sah die Lücke und sagte: „Super! Sowas machen wir hier auch!“ Zusammen mit anderen Bochumer Lesben gründete sie 1989 IHRSINN.2

Die Redaktion, die gleichzeitig ein Verein war, traf sich einmal pro Woche bei einer Redaktionsfrau zu Hause, die jeweilige Gastgeberin kochte – Ulrike machte meist Quiche und Salat – es wurde gemeinsam gegessen, dann lange, lange diskutiert, und zum Ausklang gerne ein Schnaps getrunken. Die erste Ausgabe ging mit 1000 Exemplaren an den Start. Das Feedback war unterschiedlich – den einen war IHRSINN zu akademisch, andere freuten sich über eine gut lesbare Zeitschrift mit spannenden politischen Analysen. Schon früh beschäftigten sich die Autorinnen mit Antisemitismus, Klassismus und Rassismus auch in der FrauenLesbenbewegung. Dies forderte die Leserinnen heraus, sich  auseinanderzusetzen – deshalb galten die Zeitschrift und ihre Macherinnen bei manchen als anstrengend. Doch Ulrike kannte über ihre Arbeit im Buchladen das Publikum, und die Mischung aus theoretischen und erzählenden Texten gelang: IHRSINN verkaufte pro Ausgabe zwischen 1000 und 2000 Exemplare und erschien zwei mal jährlich von 1989 bis 2004. Die Zeitschrift einer kleinen, radikalen Minderheit innerhalb einer Minderheit war einzigartig in Europa.

Ulrike Janz schrieb zum Beispiel über Lesben im NS, Gen- und Reproduktionstechnologien, Rassismus in der FrauenLesbenbewegung, über Klassenunterschiede bei Lesben, und über die Zwiespältigkeit von lesbischen Vorbildern aus der Geschichte. Ein Aspekt der viele Themen berührte, war das Thema Klasse. Arbeiter:innentochter zu sein, ist für Ulrike ein integraler, prägender Teil ihrer Biografie und für ihre linke, kritische Perspektive ein fundamentales Analyseinstrument. So zeigte sich die besagte Zwiespältigkeit von Lesben aus der Geschichte zum Beispiel darin, dass sie zum Teil als Aristokratinnen ihr Geld und ihre Privilegien nutzten, um Räume und Möglichkeiten für Frauen und Lesben zu schaffen. Gleichzeitig hielten einige von ihnen den Faschismus für das einzig wirksame und daher unterstützenswerte Mittel gegen die Ausbreitung kommunistischer Systeme.3 Statt lesbische Vorbilder zu verklären oder zu verdammen, zeigen die Texte von Ulrike Janz ein in der öffentlichen Diskussion selten gewordenes Gut: Differenziertheit und die Fähigkeit, unbequeme Widersprüche auszuhalten statt selbstgerecht bzw. unkritisch zu werden.

Von außen in den akademischen Diskurs

Ein weiteres Thema, das im Querschnitt viele andere berührt, ist das Thema Nationalsozialismus. Eine feministische Kritik an den Reproduktions- und Gentechnologien war deren Ursprung in Forschungen im NS sowie die eugenische Motivation dahinter. Eine Analyse der Widersprüche in die Lesben sich begeben, wenn sie diese Technologien nutzen, fand sich in IHRSINN ebenso wie die klare Benennung eines Gefälles zwischen Frauen im globalen Süden und denen in „westlichen Gesellschaften“.4 Aktionen gegen die Weiterentwicklung und das Nutzen von Reproduktions- und Gentechnologien gingen auch von Bochum aus und wurden zum Teil polizeilich verfolgt. Die Bewegung reagierte auf inhaltlicher Ebene auf die Repressionen, indem sie eine internationale Konferenz organisierte, bei der Aktivistinnen und Wissenschaftlerinnen auf die Situation von Menschen mit Behinderungen hinwiesen, auf die Verdinglichung weiblicher Körper, und auf die menschenverachtenden Praktiken, die zu Entwicklung der Technologien vor allem Frauen als Opfer des NS und Frauen ehemaliger Kolonien im globalen Süden betrafen.

Ulrike Janz‘ Forschungen zum Thema Lesben im Nationalsozialismus fanden komplett außeruniversitär statt, fanden aber in akademischen Kreisen schließlich auch Beachtung. Zunächst gab es zu dem Thema nur eine einzige Dissertation: „Nationalsozialistische Sexualpolitik und weibliche Homosexualität“ von Claudia Schoppmann. So suchte Ulrike sich aus Büchern, Zeitschriften, Geschichten von Opfern zusammen, was es eben gab. Ihr Interesse war, selbst zu verstehen und verstehbar zu machen, wie das Merkmal „lesbisch“ in die komplizierten Opfer/Täter:innenstrukturen der KZs verwoben war. 5 Seit 1990 bot sie Workshops und Veranstaltungen zu Lesben im Nationalsozialismus an, beim Lesbenfrühlingstreffen 1992 in Bremen nahmen zum Beispiel 200 Frauen daran teil. Bald gab es deutschlandweit Einladungen, auch von Universitäten. Eine der wenigen Wissenschaftlerinnen, die sich mit dem Thema beschäftigten war Anna Hájková,6 die bis heute an der Universität Warwick in Großbritannien lehrt. Sie hatte mehrere Aufsätze verfasst, in der taz erschien ihr Artikel „Queering the Holocaust“. Ulrike schrieb ihr daraufhin – und bekam sofort eine Antwort: Die Professorin kannte alle ihre Texte, die allmählich auch von einem breiteren Fachpublikum wahrgenommen und zitiert, aber als grauen Literatur häufig nicht angemessen gekennzeichnet wurden, ein Problem über das Anna Hájková ebenfalls einen Artikel verfasste. Ulrike wurde zunehmend auch auf wissenschaftliche Tagungen eingeladen.

Sowohl in ihren 40ern als auch mit 50 hatte sie zwischenzeitlich die Idee zu promovieren und verfasste sogar ein Exposee. Doch Ulrike hätte aber noch mal Seminare zu Methoden etc. machen müssen, und das hätte besser in ihre 20er gepasst – es gab mittlerweile einfach so viel anderes zu tun, so viele andere spannende Themen. Die Eltern hätten zwar gern gesehen, wenn eine ihrer Töchter promoviert und eine akademische Karriere gemacht hätte: „Dass Du keinen Doktor heiraten wirst, ist ja klar!“ Und lange Zeit wollte Ulrike sich selber beweisen, dass sie das schafft – doch auch ihre Mutter fand schließlich: „Ach Kind, das musste jetzt auch nicht mehr machen.“

Ulrikes gesammelte Werke haben sicher den gleichen Umfang wie eine Promotion, und ob die mehr bewegt hätte als ihre vielen anderen Texte und Aktivitäten, ist schwer zu sagen. Sicher ist, dass Ulrike Janz das Thema Lesben im NS in den wissenschaftlichen Mainstream gebracht hat. Bevor sie sich aus der Forschung zurückzog, um andere Sachen zu machen, stellte sie Anna Hajkova ihre Texte für eine Internetplattform zur Verfügung.

Phasen-weise

Mit Beginn des neuen Jahrtausends zeichnete sich ab, dass für einige von Ulrikes Projekten und Tätigkeiten ein Ende in Sicht war und dass auch in der FrauenLesbenszene und ihren Orten Veränderungen anstanden.

Ulrike war 44 Jahre alt und hatte sich vorgenommen, mit 50 spätestens die Geschäftsführung des Frauenbuchladens niederzulegen. Mit Hilfe von Coachingstunden überlegt sie, wie der Abschied funktionieren könnte. Zunächst hörte ihre wichtigste Kollegin auf und Ulrike war einmal mehr die einzige Hauptamtliche. Doch es wurde eng für Frauenbuchläden: Zwar stieg der Umsatz im Bochumer Laden stetig, aber nicht mal eine Person konnte trotz zusätzlichen Anträgen und Spenden  wirklich davon leben. Ulrikes Hauptaufgaben, nämlich die Ladenarbeit, Bestellungen, Rechnungen, Büchertische, Auslieferungen, wurden zusätzlich zur  Redaktionsarbeit für IHRSINN einfach zu viel, und Zeit für Familie und Beziehung zu finden wurde immer schwieriger. Auch bei IHRSINN gab es Veränderungen: 15 Jahre nachdem die Zeitschrift ins Leben gerufen worden war, erschien die letzte Ausgabe. Der Abschied fiel Ulrike deutlich schwerer als der vom Buchladen, sie hätte die Redaktionsarbeit gerne fortgeführt und hatte bereits Ideen für eine Ausgabe zum Thema Wechseljahre. Statt dessen brachte sie 2006 ein Buch heraus, zu dem  ehemalige IHRSINN-Autorinnen Texte beitrugen: „Verwandlungen – Lesben und die Wechseljahre“.7

Ulrikes Plan, bei Amazonas aufzuhören stieß entweder auf Unglauben („Das machst Du eh nicht!“) oder auf politisch-moralische Einwände („Das kannst Du doch nicht machen!“). Ab 2004 wurden Frauen gesucht, die Ulrikes Aufgaben übernehmen könnten, doch es fand sich keine. Ab 2005 stand also die Frage im Raum: Wie wickelt man einen Laden ab? Ab Frühjahr war Ausverkauf, im Sommer gab es eine Reihe von Büchertischen. Viele Bücher gingen an Verlage zurück, die als politische Verlage solidarisch waren und die Remissionen gutschrieben. Auch das Antiquariat Doris Hermanns nahm zahlreiche Bücher ab. Am 31.12.2006 schloss Amazonas, der Bochumer Frauenbuchladen, nach 28 Jahren. Vielen Frauen fehlte er sehr, zumal auch das Frauencafé Tradinoi seine Türen geschlossen hatte und deshalb ein weiterer wichtiger Frauenort nicht mehr existierte. Auch Ulrike schmerzte der Abschied vom Laden bis zum letzten Tag – danach nicht mehr. Sie war bereits Anfang 2006 nach Dortmund gezogen, war seit 2007 zum ersten Mal seit ihrem Coming Out nicht in einer Beziehung – es war Zeit für einen Neuanfang.

Bei den Beginen

Beginenhöfe sind Frauenwohnprojekte, die es bereits im Mittelalter gab. Sie wurden ursprünglich von christlichen Frauen gegründet, die gemeinsam leben wollten, aber keine Nonnen waren. Heute sind Beginenhöfe nicht mehr an eine bestimmte Religion gebunden, Frauen aus verschiedenen Zusammenhängen, Lesben wie Heteras leben dort alleine oder in WGs, es gibt Gemeinschaftsräume und Gemeinschaftsprojekte.

Nur wenige im Dortmunder Beginenhof kannten Ulrike und ihre Arbeit. Sie „erfand sich neu“, auf einmal war alles offen – den Beginen des Mittelalters wäre dazu sofort ein Bibelzitat eingefallen: „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“ (Ps 31:9). Und wenn frau da steht, kann sie eigentlich auch tanzen. Und genau das tut Ulrike: Während ihrer „Auszeit“, die sie im Beginenhof mit Veranstaltungen, Gartenarbeit und Öffentlichkeitsarbeit für das NRW-weite Beginenhofnetzwerk verbringt, macht sie 2007 bis 2008 eine Tanzpädagogik-Ausbildung im Bochumer Zentrum für Tanz und Bewegung. Die Idee, sich mit Tanzkursen für älteren Frauen selbstständig zu machen, erscheint ihr zunächst interessant, aber mit 50 fühlte sich eine weitere Selbstständigkeit für Ulrike nur schwer vorstellbar  an. Statt dessen gibt sie Workshops bei Lesbenfrühlingstreffen und in anderen Zusammenhängen.

Doch auch sonst gibt es schnell wieder eine Menge zu tun. Im März 2007 beginnt sie bei der Anti-Gewalt-Beratungsstelle GESINE Intervention (Frauen helfen Frauen Ennepe-Ruhr-Kreis) zu arbeiten, von 2006 bis 2013 ist sie im Vorstand des Deutschen Lesbenrings e.V. aktiv und schreibt zu verschiedenen Themen für das Lesbenringinfo 8 ebenso in der Landesarbeitsgemeinschaft Lesben NRW.

Frau Janz tanzt weiter

Ulrikes Interesse und Engagement für lesbenpolitsche Themen ist auch jetzt, zu Beginn ihres Ruhestandes ungebrochen. Die Bochum-Bezüge haben nie ganz aufgehört, so ist sie immer noch im Bochumer Zentrum für Tanz und Bewegung aktiv, aber tanzt lieber für sich und mit der geliebten Tanztheater-Gruppe, als zu unterrichten. Die Gruppe ALTERnativLos für ältere Lesben (angesiedelt in der Rosa Strippe) koordiniert sie gemeinsam mit drei weiteren Lesben und organisiert dort auch  Veranstaltungen.

Besonders wichtig ist ihr seit Sommer 2021 die Mitarbeit in einer internationalen Unterstützungsgruppe für geflüchtete Lesben im kenianischen Flüchtlingscamp Kakuma. Ulrike hat eine  Möglichkeit zur finanziallen Unterstützung eingerichtet.9

Wenn sie heute auf ihre Biografie zurückblickt, fragt sie sich oft: Wie haben wir unsere vielen Interessen und Aktivitäten eigentlich unter einen Hut bekommen? Und es freut sie, dass die kleine radikale Minderheit innerhalb einer Minderheit mit großen Forderungen und mutiger Kritik über die Jahre doch einige Veränderungen in der Gesellschaft erreicht hat. Zwar sahen zum Beispiel radikalfeministische Lesben die Ehe äußerst kritisch und hätten sie am liebsten ganz abgeschafft, doch dass nun Lesben die Möglichkeit haben zu heiraten, wenn sie das möchten, findet Ulrike positiv. Und dass in Deutschland immer noch strengere Auflagen im Bereich Gen- und Reproduktionstechnologien existieren als in vielen anderen Ländern, hat auch mit der Aufklärungsarbeit von Feministinnen wie Ulrike Janz zutun, die immer wieder auf ihre Probleme hingewiesen haben und an ihre Anfänge in der NS-Ideologie erinnert haben. Also: Celebrate progress, not perfection.

Wenn sie könnte, würde Ulrike Janz ihrem jüngeren Selbst raten, einfach mal öfter eine Pause zu machen. Ihr jüngeres Selbst würde der heutigen Ulrike dagegen sagen: „Von wegen Ruhestand! Komm, lass uns loslegen, es gibt doch so viel Spannendes und Wichtiges zu tun!“ Klingt nach einem starken inneren Team, das sicher noch viel auf die (Tanz-)Beine stellen wird.

Linda Unger

  1. Vgl. Méritt, Laura et al. (Hrsg.): Mehr als eine Liebe. Polyamouröse Beziehungen, Berlin 2005. Darin Beitrag von Ulrike Janz und Heike Aßmann: Ökonomische Aspekte der Polyamourösität: Versuch einer Kosten-Nutzen-Analyse, S. 131-137.
  2. Vgl. Büchner, Gitta: Der radikale IHRSINN, Digitales Deutsches Frauenarchiv 2018. https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/der-radikale-ihrsinn; zur Einordnung siehe auch das Porträt von Rita Kronauer unter https://www.frauenruhrgeschichte.de/frg_biografie/rita-kronauer/?projekt [agerufen am 29.12.2023]
  3. Vgl. Janz, Ulrike: (K)EINE VON UNS? Vom schwierigen Umgang mit “zwiespältigen Ahninnen”, IHRSINN 3 (1991), S. 24-39. https://www.meta-katalog.eu/Record/18234auszeiten
  4. Vgl. Janz, Ulrike und Kronauer, Rita: Von der DetailGENauigkeit zur Analyse der Re-Produktion von Herrschaft: Lesben gegen Reproduktions- und Gentechnologien, IHRSINN 1 (1990), S. 66-86. https://www.meta-katalog.eu/Record/18224auszeiten
  5. Vgl. Janz, Ulrike: Reflexionen zum “negativen lesbischen Eigentum”, IHRSINN 10 (1994), S. 70-79. https://www.meta-katalog.eu/Record/18310auszeiten
  6. Vgl. https://warwick.ac.uk/fac/arts/history/people/staff_index/hajkova/
  7. Vgl. Janz, Ulrike (Hrsg.): Verwandlungen – Lesben und die Wechseljahre”, Berlin 2006.
  8. Vgl. https://www.frauenruhrgeschichte.de/wp-content/uploads/RosaStiefelUJ1-copy.jpg
  9. Spenden unter https://www.gofundme.com/f/kakumasisters-gefluchtete-lesben-unterstutzen.
Orte:

Der Frauenbuchladen Amazonas befand sich in der Schmidtstraße 12, 44793 Bochum. Dort war zuvor das Frauenzentrum.

Zum Zentrum Tanz siehe https://www-zentrumtanz.de

Zitation: Unger, Lina, Ulrike Janz, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/ulrike-janz/

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