Betritt man das Ruhr Museum auf dem Weltkulturerbe Zollverein, das auch als Gedächtnis des Ruhrgebiets bezeichnet wird, gelangt man als BesucherIn zuerst in die Abteilung „Gegenwart“, die stark mit dem Medium Fotografie arbeitet. Auffallend viele Fotografien stammen von der Herner Fotografin Brigitte Kraemer, und das ist kein Zufall. Denn ihr Themenrepertoire ist zum einen groß und reicht von A wie „Am Kanal“ bis T wie „Türkische Gärten“. Zum anderen hat sie die Fähigkeit, uns das Besondere selbst im Banalen entdecken zu lassen.
Ihre Aufnahmen zeichnen sich häufig dadurch aus, dass sie dem Witz im Alltag auf die Spur kommen, ohne die Fotografierten dabei bloß zu stellen. „Am Kanal“ ist so ein Beispiel: Die Serie zeigt Fotos, die Brigitte Kraemer am Rhein-Herne-Kanal, später auch anderen Kanälen des Ruhrgebiets gemacht hat. Zu sehen ist, wie sich die Menschen das Naherholungsgebiet auf ihre Weise zu eigen machen: die jugendlichen „Kanalkröpper“ mit ihrem waghalsigen und verbotenen Tun, die improvisationsgeschickten Rentner in ihren kleinen Refugien oder die sich in spiritueller Ekstase im Datteln-Hamm-Kanal abkühlenden Hinduisten. Brigitte Kraemer, die in Hamm/Westfalen geboren wurde, war wohl die erste, die auf die hinduistische Community in Hamm aufmerksam geworden ist und diese bei ihrer farbenfrohen und für Europäer exotischen Prozession zum Kanal für eine STERN-Reportage begleitet hat.
Dabei ist ihr die Kamera – bis heute fotografiert sie mit einer Leica M6 analog – keineswegs in die Wiege im westfälischen Hamm gelegt worden. 1954 als Tochter eines Baggerführers und der als Aushilfskellnerin arbeitenden Mutter geboren, verbrachte sie die ersten Lebensjahre auf einem Bauernhof im ländlich geprägten Stadtteil Bockum-Hövel. Bereits während der Grund- und Realschulzeit half sie gleichfalls in den Gaststätten aus, in denen ihre Mutter arbeitete, „also ich bin schon auch irgendwie ein Kneipenkind“. Nach der Schule absolvierte sie von 1971 bis 1975 zuerst eine Ausbildung zur Steuergehilfin, eher aus Orientierungslosigkeit denn aus Zielstrebigkeit heraus. Wichtig war ihr nur, dass sie Hosen anziehen durfte, da dies in der katholisch ausgerichteten Realschule damals noch untersagt war. Die Arbeit erscheint ihr auch im Rückblick sinnvoll, weil sie abwechslungsreich war und ihr den Umgang mit Steuern und Finanzamt vertraut gemacht hat. Solidität und Fleiß – da anzufassen, wo die Arbeit anfällt – gehörten früh zu Brigitte Kraemers Eigenschaften.
Nach weiteren zweieinhalb Jahren in dem kleinen Familienbetrieb meinte sie, „die große weite Welt“ im nicht allzu fernen Münster finden zu können. Doch bei dem neuen Arbeitgeber, der „Westfälischen Central-Genossenschaft“, war sie nur noch ein kleines Rädchen im Getriebe und auf eine (von vordem zahlreichen) Aufgaben beschränkt. „Und das war eigentlich total langweilig.“ Außerdem waren dort nur „Bauernköppe“ anzutreffen und so kam der Hinweis einer Freundin auf die Fachoberschule für Gestaltung in Münster gerade recht. Nach bestandener Aufnahmeprüfung erwarb Brigitte Kraemer dort nach einem Jahr die Zugangsbefähigung für die Fachhochschule, wobei ihre Wahl auf die „Folkwangschule für Gestaltung“ in Essen-Werden fiel, Fachbereich Visuelle Kommunikation. Fleißig war sie auch hier – und an allem interessiert. Sie besuchte all das, was angeboten wurde: Bildhauerei, Malerei, Aktzeichnen, Siebdruck, Schrift …
Zur Fotografie kam sie allerdings spät, da sie den als Patriarch gefürchteten Fotolehrer Otto Steinert und dessen Seminare mied. Der eigentliche Durchbruch erfolgte erst, als 1980 die junge Angela Neuke (geb. 1943) den vakanten Lehrstuhl des 1978 verstorbenen Steinert besetzte, und Brigitte Kraemer ihre erste Examenskandidatin wurde. Das Thema ihrer Abschlussarbeit hält sie interessanterweise bis heute in seinen Bann: Frauen in einem Frauenhaus. Damals verbrachte sie viel Zeit in einem Duisburger Haus, um die dort lebenden Frauen nicht nur zu fotografieren, sondern auch deren Situation zu beschreiben, und um aus der gesamten Arbeit eine Publikation zu erstellen, die sie komplett selbst gestaltete. Ihr Engagement wurde mit einer „Eins mit Auszeichnung“ anerkannt. Mit dieser Arbeit ging sie zum STERN, zum ZEIT-Magazin, konkret und anderen und erhielt umgehend Aufträge, die bis heute nicht abgerissen sind.
Ihre erfolgreichste Arbeit, für die sie die meisten Preise und Auszeichnungen erhalten hat, ist „Friedensengel“ über das Friedensdorf in Oberhausen. Eine der ersten Arbeiten für den STERN war eine Reportage über Mädchen in Berlin, die „auf Trebe“, also von Zuhause weggelaufen waren. Neben Langzeitreportagen hat sie auch zeitlich eng gesetzte Auftragsarbeiten gemacht, wie für den SPIEGEL zum Thema „Frauen mit Kindern im Gefängnis“ oder für BRIGITTE über „Kinderprostituierte in Thailand“. Zuletzt hat sie für das Kulturhauptstadtjahr die umfangreiche Arbeit „Im guten Glauben“ fertig gestellt, eine Serie über die zahlreichen religiösen Gruppen im Ruhrgebiet.
Um an die Menschen heranzukommen und sie auch in privaten Situationen zeigen zu können, dafür setzt Brigitte Kraemer vor allem eines ein, nämlich Zeit: „Also ich bin irgendwie da, und da entwickelt sich vielleicht was.“ Schwierig ist es, die Balance zwischen Distanz und Nähe zu halten, um nicht den richtigen Moment zu verpassen. Denn je enger der Kontakt, „umso größer ist die Gefahr, dass du das eben gar nicht siehst, das Bild“. In diesen ihren Bildern sind fast immer Alltagsmenschen zu sehen; Veranstaltungs-, Politiker- oder Celebritiy-Fotografie ist nicht ihr Metier.
Den Unterschied zu männlichen Kollegen sieht Brigitte Kaemer darin, dass sie als fotografierende Frau wohl weniger als Bedrohung wahrgenommen wird, zumal sie mit ihrer technischen Ausstattung eher unscheinbar daherkommt. Sie findet ihre Kollegen keineswegs besser als sich selbst, von denen es viele auf einen Lehrstuhl geschafft haben. Das gesellschaftliche Renommee einer Professur fände Brigitte Kraemer auch für sich selbst kleidsam, nur hat sie während eines zweisemestrigen Lehrauftrages für Fotografie und Bildjournalismus an der Gesamthochschule Essen 1997/98 festgestellt, „dass meine Liebe zur Fotografie größer ist, als die Fotografie zu lehren. Ich gehöre auf die Straße und nicht auf die Uni.“
Die Fotografin erhielt unter anderen folgende renommierte Preise:
1988, Auszeichnung beim European Kodak Award für die Reportage „Die Droge der Armen“, Lösungsmittelschnüffler in Berlin-Kreuzberg
1993, Sonderpreis beim Emma Fotowettbewerb für die Reportage:„Frauen im Frauenhaus Herne“
1999, Dritter Preis beim Fotowettbewerb des Landes Niedersachsen:„Altern in der Migration“
2004, Erster Preis beim Wettbewerb „Eile und Weile. Wettbewerb zur Geschichte im Ruhrgebiet“
2004, Auszeichnung Hansel-Mieth-Preis für die Stern Reportage „Auf ein neues Leben“
2005, LeadAward Gold, Foto des Jahres für die Fotografie „Francesco“ aus der Stern Reportage „Auf ein neues Leben“
2005, LeadAward Solber, für die Stern Reportage „Auf ein neues Leben“
2005 nominiert für den Henri-Nannen-Preis in der Kategorie „Herausragende fotografische Leistung“
2005, Auszeichnung beim Art Directors Club für die Stern Reportage „Auf ein neues Leben“
2008, Sieger Deutscher Fotobuchpreis 2008 des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels für den Bildband „Mann und Auto“
Susanne Abeck/ frauen/ruhr/geschichte
Orte:
Rhein-Herne Kanal, Höhe Herne
Literatur:
Kraemer, Brigitte, Frauenhaus. Acht Frauen erzählen, Hamburg 1983 Kraemer, Brigitte, Friedensengel. Kriegsverletzte Kinder im Friedensdorf International, Essen 2004 Kraemer, Brigitte, Am Kanal, Essen 2005 Kraemer, Brigitte, Mann und Auto, Essen 2007 (mit Texten von Gerburg Jahnke und Jürgen Lodemann) Kraemer, Brigitte, Im guten Glauben, Essen 2010 Eine kurze Geschichte von Brigitte Kraemer und dem Mond von Wanne-Eickel. Eine Produktion aus dem Jahre 2011 von Aishe Malekshahi für den WDR http://www.wdr5.de/sendungen/eine-kurze-geschichte-von/s/d/09.04.2011-15.35.html
Zitation: Abeck, Susanne, Brigitte Kraemer, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/brigitte-kraemer/
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