Die spätmittelalterliche Stadtgesellschaft gründete auf Ehe und Familie. Dies gilt auch für das münsterländische Ackerbürgerstädtchen Werne. Seine günstige Lage an einer Lippefurt und an einer wichtigen Handelsstraße machte das Städtchen zum Ort eines Friedensbunds zwischen den Städten Dortmund, Soest, Münster und Lippstadt, dem Werner Bund von 1253. Wichtige Ämter konnte in Werne nur erlangen, wer ehelich und rechtlich geboren war. Frauen konnten das Bürgerrecht erwerben und ein Handwerk als Meisterin ausüben, wie aus dem “Bürgerzwang der Schneidermeister in Werne“, datiert um 1490, hervorgeht. Die Schneiderzunft bildete die Bruderschaft der Heiligen Katharina. Zum Fest ihrer Schutzpatronin sollten die Gildemitglieder “vigilie syngen laten und des andern dages seilemysse vor broder und syster, de ut der broderschop vorstorven synt“. Die verstorbenen Brüder und Schwestern wurden mit den Lebenden zu einer Gemeinschaft verbunden. Frauen galten selbstverständlich als Teil dieser Gemeinschaft.
Über ihr Erbrecht als Töchter oder Ehefrauen bewegten Frauen mit Käufen, Verkäufen und Schenkungen den Werner Immobilien- und Rentenmarkt. Das Erbrecht behandelte die Partner zumindest bei einer kinderlosen Ehe gleich. Eheleute, die ohne leibliche Erben verstarben, sollten ihr Gut in zwei Teile setzen. Ein Teil erbte der überlebende Ehegatte, den anderen Teil die Verwandten und Freunde des oder der Verstorbenen.
Angesichts des gesellschaftlichen Stellenwerts der Ehe galt eine Frau als entehrt, wenn sie jemand auf offener Straße als “Hure“ beschimpfte. Das erlebte Ende des 16. Jahrhunderts die Bürgerin Herzlieb Herzig. Wie das Bürgerbuch der Stadt 1585 vermeldete, kam sie aus Lünen in die Stadt. Sie klagte im Juli 1591 vor dem Ratsgericht: Sie habe sich Zeit ihres Lebens „aller Ehren und Ehrbarkeit beflissen“. Deswegen gezieme es niemanden, ihr etwas nachzusagen, ausgenommen, dass sie mit dem Propst von Cappenberg, Wennemar von Hoethe, zwei Kinder natürlich gezeugt habe. Trotzdem habe der Rentmeister Johann Horstropf sie in der Kirche und auf dem Kirchplatz als „Kackshure“ und als „Schandhure“ bezeichnet.
Der Rentmeister provozierte weiter. Einige Zeit später trug er seiner Magd Maria auf, der Herzlieb vor ihrem Haus etwas „anzusagen“. Die Magd des Rentmeisters führte den Auftrag nicht aus. Der Rentmeister kam ihr nach und fragte die Magd, ob die „Mönchshure“ nicht zu Haus sei. 1593 kam Herzlieb Herzig aus ihrem Garten außerhalb der Stadtmauern durch das Neutor in die Stadt. Der Rentmeister sah sie und sagte zum Wächter am Neutor:„Werzu die wacht besteltt, solln haben die porten zugethan und die Kackshure daraußen gelassen.“
Über Jahre dauerten die Prozesse, in denen Herzig ihren guten Ruf verteidigte. Die Gesellschaft stellte besondere Anforderungen an das sexuelle Verhalten von Frauen, da außereheliche Schwangerschaften das Stadtrecht durcheinander brachten. Üble Nachrede und Gerüchte, die tugendhafte Beziehungen einer Frau zum männlichen Geschlecht in Frage stellten, verletzten die weibliche Ehre schwer. In Dortmund verlor ein Mann seinen Hals, wenn er fälschlicherweise einer braven Frau oder Jungfrau die heimliche Ehe nachsagte.
Erstaunlich am Fall der Herzlieb Herzig ist, dass sie Unterstützung fand, obwohl ihr Lebenswandel in einem wichtigen Punkt den Ansprüchen von Ehrbarkeit nicht genügte. Herzlieb räumte ihre „natürliche“ Beziehung zum Propst von Cappenberg ein. Trotzdem nahm sich der Rat ihrer Sache an. Er äußerte sich sogar empört darüber, dass eine Amtsperson am helllichten Tag im Friedensbereich der Stadt „solcher handel und schelden“ anzettelte. 1597 erschien der Propst vor dem Rat und forderte die Bestrafung eines Mitbürgers, der Herzlieb Herzig zu nachtschlafender Zeit beschimpft hatte. Der Rat erklärte, der Mitbürger sei wegen dieses Verstoßes wider die Ratsordnung bereits bestraft worden.
Zu Herzigs Gunsten sagten auch eine Reihe von Frauen und Männern aus. Dass katholische Priester mit ihren Konkubinen zusammen lebten, kam bis weit in die Zeit der Reformation vor. Das Volk akzeptierte diese Verhältnisse in der Regel. Für die meisten Gemeindemitglieder war entscheidend, dass die Beziehung diskret ablief und das Paar einen ordentlichen Haushalt führte. Herzlieb Herzig wohnte zu dieser Zeit zusammen mit dem Propst von Cappenberg im Bereich der Bonenstraße, wie ein überliefertes Visitationsprotokoll der Gemeindemitglieder aus dem Jahre 1588 vermerkt:„Wie es im Hern Probsts Haußße stehe, moge Hertleff wissen“. Daher betonte Herzig auch, dass ihr „ansonsten“ nichts nachgesagt werden könne.
Leider erfahren wir nichts über das private Glück und die gesellschaftliche Anerkennung Herzlieb Herzigs in der Werner Stadtgesellschaft. Die Ratsprotokolle geben uns nur Einblick in ihren zumindest teilweise erfolgreichen Rechtsstreit auf Achtung der Ehre.
Dr. Anke Schwarze/ Werne
Orte:Bonenstraße, 59368 Werne
Literatur:Bruns, Alfred, Werner Stadtrechte und Bürgerbuch, Münster 1988.
Flüchter, Antje, Der Zölibat zwischen Norm und Devianz. Kirchenpolitik und Gemeindealltag in Jülich und Berg im 16. und 17. Jahrhundert, Köln 2006.
Transskript der Ratsprotokolle über Herzlieb Herzig mit freundlicher Genehmigung von Martin Schiwy.
Burghartz, Susanna, Rechte Jungfrauen oder unverschämte Töchter? Zur weiblichen Ehre im 16. Jahrhunderrt, in: Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte, hg. v. Karin Hausen, Heide Wunder, Frankfurt a. Main - New York 1992, S. 173-183.
Göttsch, Sabine, "... sie trüge ihre Kleider mit Ehren", in: Weiber, Menscher, Frauenzimmer. Frauen in der ländlichen Gesellschaft 1500-1800, hg. v. Heide Wunder, Christina Vanja, Göttingen 1996, S. 199-213.
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