Anna Spiekermann kam um das Jahr 1670 als uneheliche Tochter der Elßken Spiekermann auf dem elterlichen Kotten in Sutum zur Welt. Sie wurde als letztes Opfer einer fast zweihundertjährigen Geschichte der Hexenverfolgung im Vest (Gerichtsbezirk) Recklinghausen am 31. Juli 1706 hingerichtet.
Von ihrem Vater ist bekannt, dass er Soldat aus Buer war. Ihre Mutter war früh verstorben. Die Geschwister mütterlicherseits nahmen sich der Waise an. Anna Spiekermann heiratete Dirich Brockmann aus Sutum vom Brockmannshof. Nachdem ihr Mann im Jahre 1700 als Soldat gefallen war, musste sie ein oder zwei Jahre später mit ihrer kleinen Tochter den Hof und damit den Schutzraum der Schwiegerfamilie verlassen. Auch auf dem Kotten der eigenen Familie fand sie für sich und ihre Tochter keinen Platz. Sie ging zu ihrer Tante und Patin nach Westerholt. Hier arbeitete sie auf verschiedenen Höfen als Magd. Während dieser Zeit starb ihre kleine Tochter.
In Westerholt wurde Anna Spiekermann das Opfer eines Vergewaltigungsversuches. Als sie vor Ostern einen älteren Westerholter nach Hause begleitete, wurde dessen Sohn Johannes Krampe zudringlich und belästigte sie. Aus den Gerichtsakten ist zu rekonstruieren, dass er sie gegen ihren Willen küssen wollte, sie aufs Bett geworfen und gefragt habe, ob er nachts zu ihr kommen solle. Die bedrängte Frau hatte ihm, „über seine Buchsen gestrichen“, wie sie zu Protokoll gab. Was heißt, sie war gezwungen sich gegen seine Gewalttätigkeiten tatkräftig zu wehren. Der abgewiesene und beleidigte Krampe rächte sich und verbreitete das Gerücht, Anna Spiekermann hätte ihn durch Behexung impotent gemacht, ihn „seiner Manneskraft“ beraubt. Für seinen anschließenden Rachefeldzug fand er Unterstützung bei den „Junggesellen der Freiheit Westerholt“. Zwanzig Männer rotteten sich zusammen und jagten die Frau – für alle wahrnehmbar – durch das Dorf und schlugen sie am Ende derart zusammen, dass die Geschundene alles „gestand“, was die Schläger von ihr verlangten.
Anna Spiekermann wurde der Prozess gemacht. Das Gericht legte ihr die erpressten angeblichen Taten zur Last und klagten sie an wegen Hexerei und Zauberei. Immer wieder beteuerte die Angeklagte, dass sie alles aus „grosser Angst“ bekannt habe, weil die Männer sie „dergestalt mit Schlagen und Prügeln traktiert“ hätten, „dass an ihrem Leib nichts Heiles gewesen“ sei. Ganz offensichtlich gab es keine Fürsprecher für Anna Spiekermann. Die Dorfbewohner schwiegen aus Angst, in den Prozess verstrickt zu werden.
Unter den Qualen der Folter gab die Gepeinigte alle Taten zu, die man ihr zur Last legte. So „gestand“ sie am 23. April 1705, dass die Tante ihr das Hexen beigebracht haben soll. Nachdem die Folter unterbrochen wurde und die Gefolterte wieder zur Besinnung gekommen war, widerrief sie. Sie sei wie „verdummt“ gewesen, wisse nicht mehr, was sie tue oder sage, gesagt oder getan haben soll.
Nach Folter, Verhören und nach über fünfzehn Monate Kerkerhaft verurteilte das Gericht am 31. Juli des Jahres 1706 die sechsunddreißigjährige Anna Spiekermann, Witwe und Dienstmagd in Westerholt, „wegen teils gestandener, teils überzeugter Zauberei und dadurch an Menschen und Vieh verübten Schadens“ zum Tod durch das Schwert. Ihr „toter Körper“ sollte „zum abscheulichen Exempel durch den Scharfrichter öffentlich“ verbrannt werden.
Am Tag der Hinrichtung befand sich Westerholt in einem Belagerungszustand – Folge eines seit langem schwelenden Machtkampfes zwischen dem Grafen von Westerholt und den Dorfbewohnern.
Im Vest Recklinghausen waren für Zivil- und Kriminalsachen die Gerichte in Recklinghausen und Dorsten zuständig. Der Burg- und Schlossbezirk Westerholt nahm eine Ausnahmestellung ein, denn die Bewohner von Westerholt unterstanden der Gerichtsbarkeit des Burgherrn. Im Jahre 1675 war den Herren von Westerholt vom (Kölner) Kurfürsten die Zivil-, Polizei- und Kriminalgerichtsbarkeit übertragen worden. Es kam immer wieder zu Streitigkeiten wegen der Zuständigkeit der Gerichte, wobei nicht nur der Landesherr und die Städte um die Gerichtshoheit stritten, sondern hier auch der Graf von Westerholt und seine Einwohner, die mehr Freiheiten forderten und die Ablösung der Feudallasten.
Der Prozess gegen Anna Spiekermann besaß damit politische Brisanz. Es ging um eine Kraftprobe zwischen dem Grafen von Westerholt und seinen Untertanen. Der Graf demonstrierte seine Macht, indem er zur Hinrichtungsstätte der Anna Spiekermann einen Platz bestimmte, an dem die Prozession der Westerholter traditionsgemäß vorbeizog. In seinem Bericht an den Kurfürsten äußerte der Graf sogar die Befürchtung, dass sich die „widerspenstigen Untertanen“ bewappnen und die Exekution zu boykottieren suchen würden und dieses auf jeden Fall verhindert werden müsse, nötigenfalls unter Androhung schwerer Bestrafung.
Die Westerholter fassten die Entscheidung des Burgherrn als die Provokation auf, die sie war, und reagierten mit Beschwerden beim kurfürstlichen Gericht in Recklinghausen. Die (kurkölnische) Landesbehörde ergriff jedoch Partei für den Burg- und Grundherrn und damit gegen die nach Freiheit und Ablösung verlangenden Westerholter Dorfbewohner.
Am Todestag von Anna Spiekermann belagerten siebenhundert Landschützen Westerholt. Ihre Anwesenheit sollte die Durchführung der Exekution ohne Störungen garantieren und damit die Jurisdiktionsgewalt (Gerichtsbarkeit, Rechtsprechung) des Grafen öffentlich demonstrieren.
Anna Spiekermann war das letzte Todesopfer der Hexenprozesse im Ruhr-Lippe-Raum. Der ungewöhnlich lange Prozessverlauf und somit ihr fünfzehn Monate lang dauerndes Martyrium war den politischen Konfrontationen der Zeit geschuldet und Ausdruck von Machtdemonstration und sozialer Disziplinierung auf lokaler wie regionaler Ebene. Der Glaube an die Notwendigkeit von Prozessen gegen Zauberei konnte so im Vest noch in einer Zeit aufflammen, als die meisten Obrigkeiten andernorts bereits von den schädlichen Auswirkungen der Prozesse überzeugt waren.
Marlies Mrotzek/ Gelsenkirchen
Orte:Zur Baut, 45701 Herten
Literatur:Gudrun Gersmann. "Toverie halber ..." Zur Geschichte der Hexenverfolgung im Vest Recklinghausen. Ein Überblick. In: Vestische Zeitschrift. Zeitschrift der Vereine für Orts- und Heimatkunde im Vest Recklinghausen. Bd. 92/93-1993/1994. S. 7-43.
Gudrun Gersmann. Auf den Spuren der Opfer - zur Rekonstruktion weiblichen Alltags unter dem Eindruck frühneuzeiticher Hexenverfolgung. In: Vergessene Frauen an der Ruhr. Von Herrscherinnen und Hörige, Hausfrauen und Hexen 800-1800. Hg. v. Bea Lundt. Köln, Weimar, Wien 1992, S. 243-272.
Gudrun Gersmann. Die Hexe als Heimatheldin. Die Hexenverfolgung der Frühen Neuzeit im Visier der Heimathistoriker. In: Westfälische Forschungen. 45/1995. S. 102-133.
Marlies Mrotzek. Anna Spiekermann (um 1670-1706) - das letzte Opfer der Hexenverfolgung im Vest Recklinghausen. In: Von Hexen, Engeln und anderen Kämpferinnen. Stadtrundgänge zur Frauengeschichte in Gelsenkirchen. Hrsg. vom Frauen- und Mädchenforum der Lokalen aGEnda 21 in Kooperation mit dem Frauenbüro der Stadt Gelsenkirchen und dem aGEnda 21-Büro (Stadt Gelsenkirchen und Evangelischer Kirchenkreis Gelsenkirchen und Wattenscheid). Gelsenkirchen 2001, S. 75-80.
Die Arbeit stützt sich in weiten Teilen auf die Arbeiten von Dr. Gudrun Gersmann, die den "Fall" Anna Spiekermann nach den Gerichtsakten im Graf Westerholtschen Archiv im Archiv Recklinghausen rekonstruiert hat.
1994 erstellte die Frauengeschichtswerkstatt und die Radiowerkstatt der VHS Gelsenkirchen die Tonkassette zum Fall Anna Spiekermann. Die Darstellung hinterfragt lokale Arbeiten aus den 20er Jahren kritisch und deckt sexistische Komponenten auf. Im Mittelpunkt der Kassettenaufnahme steht die Frage nach der Stellung der Frau in der Dorfgemeinschaft in der Frühen Neuzeit. "Annäherung an eine Legende". Das Konzept erstellte Ingrid Scheld und sie führte auch Regie. Sie war Leiterin der Radiowerkstatt. Sie starb im Jahre 2000.
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