Gertrud Bäumer / 1873-1954

Arbeit für die Frauenbewegung

Gertrud Bäumer, eine der zentralen Persönlichkeiten der Frauenbewegung, wurde in Hagen-Hohenlimburg geboren, ging zeitweise in Mülheim an der Ruhr zur Schule und trat ihre erste Stelle als Lehrerin im Kamen an. Der Lehrerinnenberuf war für Frauen ihrer Generation der einzige als standesgemäß geltende Erwerbsberuf. Am 1. Oktober 1892 übernahm Gertrud Bäumer als Volksschullehrerin der reformierten Gemeinde in Kamen eine Doppelklasse mit siebzig Schülerinnen und Schülern.

Prägende Jahre in Kamen

In ihren Erinnerungen widmete sie der Zeit in Kamen 16 Seiten und hielt die Lebensverhältnisse ihrer bäuerlichen, kleinbürgerlichen und proletarischen Schützlinge, aber auch ihre eigenen Strategien, der Schulwirklichkeit gerecht zu werden, detailliert fest. Die Kamener Zeit brachte der späteren Bildungspolitikerin und Pädagogin erste intensive Berührungen mit der schulischen und gesellschaftlichen Realität. Wie der Kamener Stadtarchivar Hans-Jürgen Kistner betont, erlebte sie diese eingebettet in einen bodenständigen, konservativen Protestantismus. Aber in Kamen erhielt sie auch erste Einblicke in die Frauenbewegung: An ihrer Schule unterrichten außer Bäumer noch drei weitere Lehrerinnen, von denen eine ältere Kollegin ihr in der ersten Berufszeit beistand. Von ihr erfuhr sie auch vom 1890 durch Helene Lange gegründeten Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverein und der Zeitschrift  Die Lehrerin. In Kamen erhielt sie praktische wie theoretisch Anstöße für ihr weiteres Leben als eine der bekanntesten Frauen- und Bildungspolitikerin der Weimarer Republik.

Bund deutscher Frauenvereine

Die Bildungspolitikerin Bäumer hatte in der Kaiserzeit zusammen mit Helene Lange erfolgreich reformpädagogische Selbsthilfeprojekte der Frauenbewegung ins Leben gerufen. Anerkennung zollte man ihr dafür 1906 durch die Berufung in eine 45köpfige Kommission zur Reform des Höheren Mädchenschulwesens. In die Geschichte der Frauenbewegung ging Gertrud Bäumer durch ihre Vorstandsfunktionen im Bund deutscher Frauenvereine (BDF) ein, in die Geschichte des deutschen Liberalismus als Mitbegründerin der Deutschen Demokratischen Partei, in die Geschichte des Parlamentarismus als eine der ersten weiblichen Abgeordneten.

1920 wurde Gertrud Bäumer Ministerialrätin im Reichsinnenministerium und war für die Jugendfürsorge und das Schulwesen zuständig. Nach der Machtübernahme suspendierten sie die Nationalsozialisten und entließen sie mit einer Volksschullehrerinnenpension. Bis zu ihrer Absetzung im Jahre 1936 gab sie trotz Gleichschaltung weiterhin Die Frau, das Organ der bürgerlichen Frauenbewegung heraus. Nach 1936 trat sie als viel gelesene Schriftstellerin an die Öffentlichkeit.

Bäumer in der aktuellen Forschung

Von der aktuellen Forschung wird Gertrud Bäumer ambivalent beurteilt, was mit ihrer uneindeutigen Haltung dem Nationalsozialismus gegenüber zusammenhängt. Sie folgte den nationalsozialistischen Vorstellungen von einem großdeutschen Reich bis zuletzt. Die rassistische Verfolgung, Ausgrenzung und Ermordung nahm sie nicht oder nur begrenzt wahr. Bäumer kämpfte gegen den Antisemitismus, gleichzeitig zeigte sie sich unsensibel gegenüber Jüdinnen und Juden und pflegte antijüdisch gefärbte Vorurteile. 1919 verhinderte sie die Wahl von Alice Salomon als Vorsitzende des Bundes deutscher Frauenvereine (BDF). Offiziell unterband sie Salomons Kandidatur mit dem Hinweis auf die antisemitische Grundstimmung in der Öffentlichkeit. Bäumers Verhalten nach der Machtübernahme lässt sich am ehesten als „lavieren“ beschreiben: Sie überschätzte die eigenen publizistischen Wirkungsmöglichkeiten. Ihre Anpassungsstrategien und selektiven Wahrnehmungen führten bereits zu Lebzeiten zu Kritik.

Erfahrungen für das Leben

Der folgende Auszug aus Bäumers  Im Licht der Erinnerung vermittelt einen Eindruck in die Lebensverhältniss in Kamen zu Beginn des 20. Jahrhunderts und in die Schulwirklichkeit einer jungen Lehrerin:

Zum Herbst bot mir ein Schwager meiner Mutter, der Pfarrer in Kamen war, eine Lehrerinnenstelle in der Volksschule an, die mit seiner Kirchengemeinde verbunden war. Ich wurde gerade 19 Jahre alt, als ich – für 980 Mark im Jahr – die Stelle antrat.

Ein neues, kräftiges Stück Wirklichkeit tat sich auf als Umwelt und Arbeitsfeld. Die Stadt, zwischen Dortmund und Hamm gelegen, war damals noch in ihrer Struktur ackerbürgerlich. Aber eine große Zeche hatte schon einen Teil der Handwerker und Kleinlandwirte in Bergleute verwandelt und oberschlesische Arbeiter angezogen.
Ich wohnte im Pfarrhaus und damit im Mittelpunkt eines lebendigen, kirchlichen Gemeindelebens altwestfälischer Prägung … Für die Verbindung mit den Schulkindern war meine Zugehörigkeit zum Pfarrer unersetzlich wertvoll. Ich begleitete ihn auf den nachmittäglichen Gemeindebesuchen zu den Eltern – Bauern, Handwerker, Bergleute in der Stadt und auf den verstreuten Höfen und Kleinstellen im Lande; ich wurde mit zu den Kindtaufen und Hochzeiten eingeladen und in schwierige landwirtschaftliche Gespräche über Ferkelzucht verwickelt; ich ging mit hinaus ins Zechengelände, als Bergleute verschüttet waren und angstvolle Trupps von Frauen und Kindern auf den Erfolg der Bergungsarbeiten warteten. So verwuchs man rasch mit dem eigentümlichen Lande, in dem die Fördertürme und Schlackenhalden hinter den breiten Bauernsitzen der Schulze-Velmede oder Schulze-Asten in den Horizont ragten, und die Bergleute durch die eingehegten Vieweiden die weiten Wege von ihren Kleinstellen zur Schicht zogen …
Der Lehrer einer pädagogischen Akademie von heute wird den Vorbereitungszustand, in dem eine neunzehnjährige Lehrerin eine große Klasse mit zwei Jahrgängen des dritten und vierten Schuljahrs – etwa 70 Kinder – mit dem gesamten Unterricht, auch Gesang, Zeichnen und Handarbeit, übernahm, einfach frevelhaft finden. Für die technischen Fächer war ich weder vorbereitet noch geprüft, meine Ausbildung, wenn man sie so nennen will, und mein Examen bezog sich mit zwei Fremdsprachen auf die „höheren Schulen“ – sicher wäre die eines ordentlichen Volksschulseminars in jeder Beziehung solider gewesen…

Mit theoretischen Vorstellungen von den Herbartschen Formalstufen, einer gewissen autodidaktischen Praxis aus dem Kindergottesdienst und zwei faktisch abgehaltenen Lehrproben, stand ich vor der Schar, die zunächst mein Hochdeutsch so wenig verstand, wie ich ihren Dialekt. Gleich in meiner ersten Stunde erhoben eine Reihe Finger sich mit der Mitteilung: \ich bin durchgeregnet\. Es war ein nasser Herbsttag, und die Kinder kamen zum Teil vom Lande auf weiten Wegen. Was machte man mit ihnen? Diese äußeren praktischen Fragen waren viel entscheidender als die \Methode\. Man mußte zum Beispiel wissen, wie der Urlaub zu landwirtschaftlichen Hilfsarbeiten zu handhaben war. Da von der Regierung Entgegenkommen empfohlen war, beurlaubte ich zum Vergüngen meines Onkels die Kinder zum Rübenausziehen an einem Frosttag, an dem kein Mensch eine Rübe aus der Erde holte…

Merkwürdigerweise ging es auch in dieser Form. Die Erinnerung an diese Schule ist mir immer ein Beweis, wie wenig Vorbereitung, Regelung und Paragraphen eine lebendige Sache braucht, um zu gedeihen, und daß es eigentlich auf andere Dinge ankommt, als auf `Pädagogik`im Schulsinn. (Ich bin sehr ketzerisch geworden in bezug auf „Lehrerbildung“. Das wichtigste ist, daß man sofort anfängt, mit den Kindern zu leben. Kann man das am Beispiel lernen? Ich weiß nicht, was mir die beste Vorbereitung geholfen hätte in dem breiten, niedrigen Raum mit den über den Köpfen der Kinder liegenden Fenstern, der durch Rattenfraß etwas durchlässigen Tür, dem Ofenrohr, das quer durch den Raum zur Wand führte und auf dem manchmal Tauben saßen, und diese Schar von Kindern vor mir – wohlgeraten und verkümmert, aus Bürgerstuben, von Bauernhöfen und aus Zechenhäusern, in Schuhen und in Holzpantoffeln, verwahrlost und gepflegt, mit sauber geflochtenen Zöpfen und in verdächtiger stumpfer Struppigkeit. Diese Wirklichkeit hätte man sich ja vorher nicht ausdenken können. Sie mußte eben angepackt werden. Da waren zum Beispiel vier ältere stumpfe Mädchen, die einfach nicht lesen und schreiben konnten. Drei Jahre waren sie so mitgelaufen. Ich habe sie ganz naiv täglich eine Stunde dabehalten, damit sie diese schweren Künste noch lernten, obwohl die Kollegen sagten ,das ginge grundsätzlich nicht. Wegen eines dieser Kinder wurde ich als Zeugin nach Dortmund vorgeladen; der eigene Vater hatte ein Sittlichkeitsverbrechen an seiner Tochter begangen. Eine unbekannte Welt klaffte auf. Dem einzelnen Kinde gerecht zu werden, darin schien mir immer die Schwierigkeit meiner Aufgabe zu liegen; den Unterricht, die Behandlung des \Lehrstoffs\ fand ich sehr viel einfacher. Aber das lag gewiß daran, daß ich so wenig \Methodik\ gelernt hatte. Für mein Gefühl waren mir vor allem die Kinder, jedes einzelne, anvertraut, viel mehr als das Pensum oder das \Lehrgut\. Und dieses Gefühl, daß die Schicksale der Kinder mir zu einem guten Teil aufgegeben waren, wurde ja auch durch den persönlichen Zusammenhang in der Schulgemeinde verstärkt. Der Pfarrer kannte von vielen der Kinder die Familienverhältnisse genau. Der Schule selbst lag, da sie Gemeindeschöpfung war, an dem Menschen, nicht an dem \Bildungsziel\; sie war mehr Lebensgemeinschaft als `Lehranstalt\…

Wenn ich heute eine alte Photographie der Klasse ansehe, kenne ich noch alle Namen. Ich weiß, wie die kleine, kräftige Martha Vorwig die Stricknadeln packte, daß sie sich in der heißen Kinderhand verbogen, ich sehe die dunkelhaarige Martha Stahl mit den mich selbst einschüchternden, unbeschreiblich dreisten, schwarzen Augen ungebändigt auf der \Sünderbank\ neben dem Katheder sitzen, und ich fühle wieder die Not von Minnie Kämpfer, dem Bergmannskind, in ihrem fadenscheinigen, karmoisinroten Kleidchen mit der kirschroten Schürze. Ich hatte ihr einmal nachmittags nicht freigegeben, als sie, wie fast immer, behauptete, zuhause bleiben zu müssen, weil ihre Mutter Kohlen holte. Da klopfte es leise an die Klassentüre, als die Zeichenstunde schon angefangen hatte, und davor stand, schweißperlend, das achtjährige kleine Ding mit einem Säugling auf dem einen Arm, dem sie den Bleistift zum Halten in die Faust gesteckt hatte; das Heft hatte sie unter den anderen Arm geklemmt. Sie wurde mit ihrem Pflegling in der Klasse installiert (wir \verwahrten` trotz amtlichen Verbots öfters kleine Geschwister), und wir dachten, es sei nun gut. Das Kind aber fing bitterlich an zu weinen und schluchzte auf Befragen verzweifelt: “es sind noch welche draußen. Ja, da saßen noch drei aufsteigenden Alters auf den Stufen der Haustür; die waren alle sauber gemacht, in Marsch gesetzt und den weiten Weg von den Zechenhäusern herangeschleppt worden; kein Wunder, daß der kleinen Mutter die blonden Haare in Strähnen an der Stirn klebten und die feuchte, kleine Hand zitterte, als sie anfing, ihre Striche zu malen. Nun war sie aber auch unauslöschlich dankbar. Als die große Familie bald darauf zur Zeche Königsborn übersiedelte, hat sie alle Vierteljahre, wenn wir Lehrer zur Konferenz nach Unna mußten, an der Straße gewartet, um guten Tag zu sagen…

Dr. Uta C. Schmidt/ frauen/ruhr/geschichte

Literatur:

Bäumer, Gertrud, Im Lichte der Erinnerung, Tübingen 1953; Auszug aus dem 5. Kapitel, S.  102 – 118.
Kistner, Hans-Jürgen, Wegbereiterin der Frauenbewegung als Lehrerin in Kamen, in: Jahrbuch des Kreises Unna 1988, S. 132f.
Kistner, Hans-Jürgen,„Mehr Lebensgemeinschaft als Lehranstalt“. Gertrud Bäumers Erfahrungen als Lehrerin in Kamen, in: Jahrbuch des Kreises Unna 2004, S. 45-50.
Schaser, Angelika, Helene Lange und Gertrud Bäumer. Eine politische Lebensgemeinschaft, Köln, Weimar, Wien 2000.

Zitation: Schmidt, Uta, Gertrud Bäumer, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/gertrud-baeumer/

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