Neunzehn Abgeordnete der SPD-Fraktion (Sozialdemokratische Partei Deutschlands) immten bei der entscheidenden Abstimmung gegen die Wiedereinführung der Bundeswehr am 6. März 1956 mit einem offenen „Nein“. Darunter waren drei Frauen: Lisa Albrecht aus München, Trudel Meyer aus Dortmund und Alma Kettig aus Witten.
Alma Kettig war 30 Jahre alt, als es nach dem Zweiten Weltkrieg galt, in Deutschland eine neue Demokratie aufzubauen. Die Erlebnisse des Zweiten Weltkrieges ließen sie nach 1945 klare politische Ziele formulieren:„Ausrottung des Nazismus, Vernichtung des Militarismus und Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft“. In die SPD – mit der sie gemeinsam diese Ziele verfolgen wollte – war sie im Dezember 1945 eingetreten. Sie war Sozialdemokratin, Pazifistin, Antifaschistin und Freidenkerin, gehörte der Gewerkschaft IG Papier, Chemie Keramik und der Arbeiterwohlfahrt an und sie stritt für den Frieden und die Rechte der Frauen: Als Sozialisten vertreten wir die Auffassung, dass der Krieg als Mittel der Politik aus rechtlichen, sittlichen und menschlichen Gründen aus dem Zusammenleben der Völker verschwinden muss, sagte sie im November 1950 in einer Rede.
Die Erfahrung, dass es nicht immer leicht war, in einem Männerbund Politik zu machen, sammelte sie 1952, als sie mit drei anderen Frauen ins Stadtparlament in Witten gewählt wurde: Wir waren so richtige Blümchen zwischen all den Männern, sagte sie später.
Nachdem bereits um die Jahreswende 1949/50 bekannt geworden war, dass die Adenauer-Regierung die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und deren Einbeziehung in die westlichen Militärbündnisse anstrebte, kämpfte sie leidenschaftlich gegen die Wiederaufrüstung. Der Gedanke, dass Nazigeneräle eine neue deutsche Wehrmacht aufbauen könnten, erschien ihr als „blanker Wahnsinn“. Alma Kettig war gegen jede Art des Krieges, auch gegen den in den 1950er Jahren tobenden kalten Krieg. Sie konnte und wollte Adenauers „Politik der Stärke“ nicht akzeptieren und war sich der Unterstützung durch „ihre“ Partei sicher.
1953 wurde sie in den Bundestag gewählt. Leicht hatte sie es als Bundestagsabgeordnete nicht. In der SPD-Fraktion war sie bald eine der wenigen, die ihren antimilitaristischen Auffassungen treu blieb und gegen den Willen der Mehrheit zu den Fragen der Wiederbewaffnung und der Notstandsgesetze, den wichtigen politischen Streitfragen der 1950er und 60er Jahre, eine entschiedene Gegenposition einnahm, von der sie trotz vielfältiger Interventionen, Pressionen, Verdächtigungen und Bespitzelungen nicht abwich. Die Abstimmung zur Ergänzung des Grundgesetzes und zur Remilitarisierung am 6. März 1956 wurde für Alma Kettig zum Schlüsselerlebnis. Das Ereignis führte zu einem tiefen Riss in der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion. Dass sich die Meinung vieler Parteifreunde zur Wiederaufrüstung geändert hatte, konnte sie nicht begreifen. Denn durch die Zustimmung zur Ergänzung des Grundgesetzes hatte die SPD alle Grundlinien aufgegeben, auf die die sozialdemokratische, die deutsche und die internationale Politik 1945 aufgebaut hatte: Es sollte ja abgerüstet und nicht aufgerüstet werden, es sollte Kooperation geben und nicht Konfrontation, sagte sie in einem Interview.
Sie bekam zahlreiche Briefe aus der Bevölkerung, auch aus der SPD-Mitgliederschaft, die ihr Abstimmungsverhalten begrüßten. Die meisten Verbündeten fand sie jedoch in der außerparlamentarischen Friedensbewegung. Am 21.7.1956 trat das Wehrpflichtgesetz nach einigen Auseinandersetzungen in Kraft. Alma Kettig sagte auch weiterhin zu allen Aufrüstungs- und Militärausgaben und zum Kauf von Atomwaffen ein klares „Nein“.
Als die NATO Ende des Jahres 1956 die mögliche Ausrüstung der Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen aufwarf, unterstützte Alma Kettig einen Antrag der SPD-Bundestagsfraktion, darauf zu verzichten. Die Regierungsparteien lehnten das Anliegen ab. Alma Kettig wurde zum zweiten Mal in den Bundestag gewählt und amtierte dann sogar als Schriftführerin und Mitglied des Bundestag-Vorstandes. Als sich im Januar 1958 im ganzen Lande Komitees gegen die Aufrüstung der neugebildeten Bundeswehr mit Atomwaffen bildeten, schloss sich die SPD an. Alma Kettig hielt leidenschaftliche Reden im Rahmen von großen und kleinen Kundgebungen und auf Parteiversammlungen. Der Bundestag jedoch beschloss mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, die Bundeswehr mit atomaren Waffen auszurüsten. Alma Kettig kämpfte nun in der außerparlamentarischen Friedensbewegung weiter. Ihre Arbeit in der SPD-Fraktion im Bundestag setzte sie fort.
Die engagierte Sozialdemokratin musste auch in anderen Punkten Opposition beziehen, wenn sie ihre antikapitalistischen und antimilitaristischen Positionen nicht aufgeben wollte. Nachdem 1959 das Godesberger Programm verabschiedet war, läutete Herbert Wehner am 30. Juni 1960 als stellvertretender Parteivorsitzender und führender außenpolitischer Kopf der SPD „die große politische Schwenkung“ der SPD zur positiven Position zur „Landesverteidigung“ sowie zur Westbindung und Nato-Integration der Bundesrepublik ein. Alma Kettig trat weiterhin offen gegen die Wiederbewaffnung und die NATO auf. Als sie 1965 – gemeinsam mit elf GenossInnen – gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze stimmte, galt sie als „Abweichlerin“. Weder in der Parteispitze noch in der Fraktion hatte sie Rückhalt, selbst nicht bei denjenigen, die ihre antimilitaristische Gesinnung teilten. Im Sommer 1965 war sie die einzige, die gegen den Verteidigungsetat stimmte. Nun wurde sie diffamiert, diskriminiert, bedrängt und unter Druck gesetzt, ihren Sitz im Bundestag aufzugeben. Kurz vor Ende der Legislaturperiode legte sie alle Ämter nieder, weil sie die Politik der SPD nicht mehr mit ihrem Gewissen vereinbaren konnte.
Sie verlagerte ihre Aktivitäten auf außerparlamentarische Tätigkeitsfelder, vor allem auf die Westdeutsche Frauenfriedensbewegung (WFFB), mit der sie schon länger kooperierte.
In der Zeitschrift der WFFB „Frau und Frieden“ machte sie den Vorschlag, in der BRD ein Ministerium für Frieden und Abrüstung nach schwedischem Vorbild einzurichten. Nachdem sich die WFFB 1974 aufgelöst hatte, gründete sie 1976, gemeinsam mit anderen Frauen die Demokratische Frauen-Initiative (DFI).Sie manifestierte damit ihre Vorstellungen einer neuen außerparlamentarischen links-politischen Frauenorganisation und arbeitete in deren Zeitschrift „Wir Frauen“ mit. Im Dezember 1980 beteiligte sie sich an großen Demonstrationen gegen die Rekrutierungspläne für Frauen. 1985 schied sie dann, fast siebzigjährig, aus der Arbeit der DFI aus. Im Wuppertaler Freidenkerverband, dessen Stellvertretende Vorsitzende sie seit 1981 war, blieb sie aktiv. Bis ins hohe Alter arbeitete sie in der Vietnamsolidarität, engagierte sich bei antifaschistischen Aktivitäten, beschäftigte sich mit Problemen der Länder des Südens und war mit den Naturfreunden unterwegs.
„Ein Leben für Freiheit und Menschenwürde ist zu Ende gegangen“ schrieben Angehörige und Freunde in ihrer Todesanzeige.
Dr. Gisela Notz / Berlin
Literatur:Notz, Gisela, Frauen in der Mannschaft, Bonn 2003, S. 264 – 282.
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