Emmy Olschweski versorgte die Nachbarschaft nicht nur mit Süßigkeiten, Bier und Tabak, sie war auch Kreditgeberin, Lebens- und Eheberaterin. Nicht einmal zu Weihnachten mochte sie ihre Kunden vernachlässigen. Pünktlich verließ sie die Familienfeier, um den Kiosk zu öffnen. Ihren eigenen Geburtstag feierte sie zwischen Wohnung und Kiosk mit Verwandten und Kunden. Einen längeren Urlaub machte sie nur einmal in ihrem Leben: 1968 fuhr sie zusammen mit ihrer Großnichte für zwei Wochen nach Italien. Aber ohne ihre Bude fühlte sie sich nicht so richtig wohl. Mehr als einen Tag mochte sie nicht abwesend sein. Lange Arbeitszeiten waren kein Thema und auch nicht die Vermischung von Geschäftlichem und Privatem. Wenn jemand ein Glas Kirschen oder Pralinen brauchte, die es in der Bude nicht gab, dann wurden die Dinge aus der Wohnung nebenan geholt. Die Kunden waren eben auch Nachbarn und Freunde, die Grenzen fließend. Die Bude war nicht nur Verkaufsstelle, sondern auch Treffpunkt, Teil des sozialen Netzwerkes. Dort wurden Nachrichten ausgetauscht, ein offenes Wort in so mancher Sache gesprochen, gefeiert bis in die Nacht. An der Bank hinter ihrer Bude trafen sich zum Beispiel der Kaninchen- und der Taubenzüchterverein. Da wurde dann bei einem Bier „gestrunzt“: Da kamen dann die ganz großen Stories. Emmy Olschewski war resolut und hatte alles im Griff. Ein Kunde erinnert sich: „Wenn da einer lauter wurde, hat sie den Finger gehoben – das reichte. Oder sie sagte: „Jungs, das wird mal bisschen laut hier.“ Und dann war wieder Ruhe. Sie war das, was man ein Original nennt, Kioskbesitzerin mit Leib und Seele.
Ihre Eltern, Anna Gaffron und Josef Hoffmann, stammten aus Schlesien und zogen 1904 der Arbeit wegen ins Ruhrgebiet nach Castrop-Rauxel. Dort in der Schweriner Straße 10, wo sie ihr Leben lang zu Hause blieb, kam Emmy am 10. Oktober 1904 als siebtes Kind zur Welt – zehn Tage nach der Ankunft der Familie in der neuen Heimat. Früh verlor sie ihren Vater, der als Bergmann auf der Zeche Graf Schwerin arbeitete. Er starb 1908 an einer Lungenentzündung. Früh starb auch ihr Stiefvater, der aus dem Elsass stammende Bergmann Alois Jaeger. Die Frauen waren nach diesen Schicksalsschlägen auf sich gestellt. Von der kargen Witwenrente allein konnten sie nicht leben, ein Broterwerb musste gefunden werden.
Mit Bravour hatte Emmy acht Jahre Volksschule absolviert, eine Berufsausbildung strebte sie jedoch nicht an. Sie half stattdessen ihrer Mutter, Gemüse auf dem Castroper Markt zu verkaufen. 1921 erhielten sie dann die Erlaubnis, neben dem Wohnhaus in der Schweriner Straße eine Gemüseverkaufsbude zu errichten. Wenig später durfte auch Selterswasser in das Sortiment aufgenommen werden. Die Geschäftsidee erwies sich als erfolgreich, denn das Haus lag strategisch günstig mitten in einer Bergarbeitersiedlung vor der Zeche Graf Schwerin. Die Kundschaft nahm das Angebot dankend an.
Ihre Heirat mit dem aus Westpreußen stammenden Bergmann Erich Olschweski 1925 und die Geburt ihrer Tochter Ursula ein Jahr später schmälerten Emmys Engagement für die Bude nicht. Und als ihre Mutter 1942 starb, übernahm sie das Geschäft. Zum einen aus finanziellen Gründen. Materielle Unabhängigkeit war wichtig, das wusste sie aus den Erfahrungen, die ihre zweimal verwitwete Mutter machen musste. Zum anderen aber war ihr das Büdchen zweifelsohne auch Herzensanliegen und Lebenselixier.
Während der Kriegsjahre blieb der Kiosk geöffnet, auch wenn das Sortiment bescheiden war. Dank der fortbestehenden Kontakte, so erinnert sich Emmys Tochter Ursula, kam die Familie gelegentlich an begehrte Waren wie Kaffee oder Tabak, die gegen andere Dinge getauscht werden konnten. Außerdem brachten der Garten, Pachtland und Kleinviehhaltung hinreichend gute Erträge, so dass die Familie über die Runden kam. Dafür hatte Emmy, die den Ersten Weltkrieg hungernd überstanden hatte, gesorgt. Auch Strickarbeiten im Tausch gegen Butter gehörten zu ihrem strategischen Repertoire, und im Zweifelsfalle mussten alle Frauen der Familie dabei mithelfen.
Das Wirtschaftswunder der 1950er Jahre erreichte auch den Kiosk, Warenangebote und Umsatz stiegen. Das Büdchen wurde umgebaut, das Fenster für Auslagen und Verkauf größer. Eine Stufe aus Stein machte es den Kindern leichter, die verlockenden Süßigkeiten in Augenschein zu nehmen. Einen Kühlschrank gab es noch nicht, Getränke wurden mit Eis gekühlt, das der Eismann regelmäßig in Blöcken anlieferte.
Die Schließung der Zeche Graf Schwerin 1961 bedeutete eine Zäsur. Die Bude lag plötzlich nicht mehr auf einer Hauptzugangsstraße, sondern in einem ruhigen Wohngebiet. Der Umsatz ging zurück. Emmy nutzte den allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung, um eine andere Geschäftsidee zu realisieren. Sie betrieb mehr als zehn Jahre lang eine Heißmangel mit bis zu vier Angestellten. Die Bude verpachtete sie in der Zeit – durchaus schweren Herzens – an ihre Großnichte. Ein Verwandter erinnert sich, wie sehr Emmy ihren Kiosk vermisste. „Die Bude war ja auch ein Treffpunkt. Da waren immer Leute, alle kamen da hin. Emmy wusste praktisch alles von allen. Das war so wie Fernsehen heute.“
Als ihr Mann Erich 1967 starb, übernahm Emmy den Kiosk wieder selbst. Sie blieb ihm treu bis ans Ende ihres Lebens. Noch mit 91 Jahren stand sie hinter der Theke, dann forderten Alter und Gesundheit ihren Tribut. Bis zu ihrem Tod am 5. Mai 1998 führte ein Nachbar den Kiosk weiter, dann wurde er demontiert und vom LWL-Industriemuseum übernommen. Aus den Berichten der Verwandten und ehemaligen Kunden ist ein Portrait der Bude und ihrer Besitzerin entstanden, das ein Stück Frauen- und Sozialgeschichte des Reviers erzählt.
Vera Steinborn / LWL-Industriemuseum
Orte:Schweriner Straße 10, 44572 Castrop-Rauxel
Literatur:Overbeck, Anne, Rat und Tat und bunte Tüten. Die Trinkhalle von Emmy Olscheski in Castrop-Rauxel, in: Die Bude. Trinkhallen im Ruhrgebiet. Fotografien von Brigitte Kraemer, hg. von Dietmar Osses, Essen 2009, S.128-131.
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